Verschiedenen Arten von Beziehungen und ihre Regeln

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Das Motiv der persönlichen Unsicherheit veranlasst uns, auch für wichtigere Bereiche Regeln aufzustellen. ... Wie sind all diese will­kür­lichen Regeln über das "richtige" Verhalten zustande gekom­men? Die Antwort ist einfach: Wir alle erfinden diese Regeln je nach Bedarf und benützen dabei die Anschauungen, die man uns in der Kindheit ein­ge­impft hat, als Leitfaden. Dann wenden wir sie manipulativ an, um das Verhalten anderer Menschen zu kontrol­lie­ren, wodurch wir ihre Rechte auf Selbstsicherheit verletzen, und mildern auf diese Art und Weise unsere Unsicherheit, die darauf beruht, dass wir nicht wissen, wie wir das anstehende Problem meistern sollen.
Wenn wir jedoch das Recht wahren, der oberste Richter unseres eigenen Verhaltens zu sein, und die willkürlichen Regeln, die andere auf­ge­stellt haben, erst gutheißen wollen, bevor wir sie befolgen, sind wir eine ernste Bedrohung der willkürlich struktu­rier­ten Ordnung, die selbstunsichere Menschen im Umgang mit uns anwenden. Es ist verständlich, dass ein selbstunsicherer Mensch sich davor scheut, anderen das Recht auf Selbstsicherheit und damit Einfluss auf die Gestaltung ihrer Beziehung zu ihm selbst zu­zu­ge­ste­hen. Als Selbst­schutz­maßnahme wird er Sie psycho­lo­gisch mit Regeln und Normen über Recht und Unrecht, Fairness, Vernunft und Logik manipulieren, um auf diese Weise ein Verhalten zu kontrollieren, das mögli­cher­weise mit seinen eigenen Wünschen, Vorlieben und Abneigungen in Konflikt steht. Das Tragische an der Bewältigung durch Manipulation ist, dass dem Manipulator die einzige wirklich erforderliche Recht­fer­ti­gung für seine Bemühungen um die Herbeiführung einer Veränderung nicht bewußt ist – nämlich die Tatsache, dass er eine Veränderung wünscht. ...

Von allen Beziehungen sind es die kommerziellen Interaktionen, die am weitestgehenden strukturiert sind, bevor sie überhaupt begin­nen. Diese Struktur kann auch die Form einer Rechtsvorschrift oder eines Vertrags haben. So wissen z.B. ein Verkäufer und ein Kunde genau, wie ihre kommerzielle Interaktion ablaufen wird. Der eine wählt die Ware aus und bezahlt sie, der andere nimmt das Geld entgegen, liefert die Ware aus und preist ihre Vorzüge. Probleme entstehen bei kommerziellen Beziehungen dann, wenn eine der Parteien (für gewöhnlich ist es der Verkäufer) eine externe manipulative Struktur in die Interaktion einführt, die man nicht vorher vereinbart hatte, und die dem Kunden nicht gestattet, selbst zu entscheiden, was er tun will. Zum Beispiel: "Wir haben nichts mit der Reparatur Ihres Kühlers zu tun. Das war auf Grund eines Nebenvertrages Sache der Spezial­werkstatt. Sie müssen sich an diese Leute wenden." (Womit der Verkäufer sagen will: Du Blödmann! Weißt du denn nicht, wie bei uns Geschäfte gemacht werden?)

Autoritätsinteraktionen sind nur teilweise im voraus strukturiert. Das Verhalten der Beteiligten an einer solchen Beziehung wird nicht völlig von vorher vereinbarten Vorschriften geregelt, obwohl die Rollen und das System natürlich von Anfang an klar definiert sind. Zu dieser Kategorie gehört z.B. auch die Interaktion zwischen einem Vorgesetzten und einem Untergebenen. Beim Umgang mit einem Vorge­setz­ten sind nicht alle Regeln im vorhinein festgelegt und vereinbart worden. Sie wissen vielleicht, wie Sie mit Ihrem Vorge­setz­ten bei der Arbeit umgehen müssen, aber was tun Sie, wenn Sie sich nach Feierabend mit ihm treffen? Wer bezahlt die Drinks? Wer bestimmt, in welche Bar man geht? Aber auch am Arbeitsplatz ist nicht alles durch Vorschriften geregelt. Was tun Sie, wenn Ihr Chef ganz unerwartet von Ihnen verlangt, dass Sie mehr Verantwortung übernehmen, in unregel­mä­ßi­gen Schichten arbeiten oder unbezahlte Überstunden machen sollen?
Ihr Vorgesetzter am Arbeitsplatz ist keineswegs auch Ihr Vorge­setz­ter auf dem Tennisplatz; wie kommt es dann, dass Sie alles arrangieren müssen, wenn Sie zusammen Tennis spielen wollen? Auch nach Feierabend, auf dem Nachhauseweg, ist er nicht mehr Ihr Chef, wieso bringen Sie dann seinen Anzug in die Reinigung? Es passt Ihnen gar nicht, sein Laufjunge zu sein, trotzdem sagen Sie nichts. Solche Dinge passieren immer wieder, wenn in einem Bereich, in dem keine Struktur für die Absicherung der Bequem­lich­keit beider Seiten erforderlich ist, eine willkürliche Struktur eingeführt wird. Wenn eine Struktur einseitig eingeführt wird, zielt sie in Wirkung und Absicht auf die Kontrolle Ihres Verhaltens ab, und das verstößt gegen Ihr Recht auf Entscheidungsfreiheit.
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In der dritten Kategorie, also der Beziehung zwischen Gleich­gestell­ten, gibt es keine Struktur, die im voraus vereinbart ist. Alle Strukturen werden erst im Laufe der Beziehung entwickelt, und zwar durch praktikable Kompromisse. Diese von beiden Seiten verein­barten Kompromisse gestatten eine Fortsetzung der Beziehung, ohne dass täglich erneut darüber verhandelt werden muss, wer was tut und wann. Viele Leute, die bei mir lernen, selbstsicherer zu sein, stellen die naive Forderung, dass diese Kompromisse fair sein sollten, und sind etwas verdutzt, wenn ich ihnen sage: "Es ist nicht nötig, dass ein Kompromiss fair sein muss, um nützlich zu sein. Hauptsache, er funktioniert. Wo haben Sie denn die abwegige Idee her, dass das Leben fair ist? Wenn es das wäre, könnten Sie und ich genauso wie die Millionäre in die Südsee, in die Karibik oder an die französische Riviera fahren, wann immer wir Lust hätten. Statt dessen sitzen wir in diesem muffigen Klassenzimmer und versuchen zu lernen, selbst­sicher zu sein."
Beispiele für Interaktionen zwischen Gleichgestellten sind die Bezie­hun­gen zwischen Freunden, Nachbarn, Kollegen, Ausgeh­partnern, Liebespaaren, erwachsenen Familienmitgliedern und Ehepaaren. Das sind die Beziehungen, die Ihnen die größte Freiheit bieten, Ihre Wünsche zu äußern, gleichzeitig aber auch das größte Risiko, verletzt zu werden. Das deutlichste Beispiel dafür ist die Beziehung zwischen Eheleuten. In einer guten, partnerschaftlichen Ehe arbeiten Mann und Frau gemeinsam die Struktur des Kompromisses aus und modifizieren sie je nach Bedarf; die Basis dafür ist, dass jeder dem anderen sagt, was er wünscht und was er geben kann. Keiner von beiden hat Angst, in seinen eigenen Augen merkwürdig oder selbstsüchtig zu erschei­nen, oder gegen irgendwelche geheiligten traditionellen Regeln über das "richtige" Verhalten von Eheleuten zu verstoßen. Durch diese Fähigkeit des selbstsicheren Miteinanderteilens wird dem Verhalten der Partner ein Minimum an praktikablen Kompromissen auferlegt, die gelegentlich neu ausgehandelt werden müssen. Da die Struktur der Ehe so flexibel wie möglich bleibt, können die Eheleute sich mit den echten Problemen des Lebens befassen, statt dass sie sich mit frustrierenden manipulativen Konflikten abplagen. In einer Beziehung zwischen Gleichgestellten kommt es zu Problemen, wenn einer der Partner, oder auch beide, aus Unsicherheit oder vielleicht auch Unwissenheit vorgefasste Ideen über das "richtige" Verhalten von Freunden oder Ehepartnern mitbringt. In einer gestörten Ehe hat mindestens ein Partner eine eng umrissene Vorstellung von der Rollenverteilung. Diese willkürlichen Vorschriften gestatten es dem anderen Partner nicht, sein eigenes Verhalten in der Ehe zu beurteilen. Aber solche Zwangsvorschriften taugen nicht für die Wirklichkeit. Die Einzelheiten jeder Rolle müssen im Laufe der Zeit und je nach den Gegebenheiten ausgearbeitet werden, wenn die Partner in Harmo­nie miteinander leben und glücklich sein wollen. Je unsicherer ein Ehepartner ist, desto willkürlicher oder manipulativer ist die Struktur, die er dem anderen und sich selbst von Anfang an aufzu­er­le­gen versucht. Ein unsicherer Mensch kommt am besten in einer sehr strukturierten Situation zurecht, in der es nur wenige Unbekannte gibt, mit denen er sich befassen muss. Ein unsicherer Ehemann legt seiner Frau vielleicht nur deshalb eine willkürliche Struk­tur auf, weil er dadurch seine eigene Furcht, dass er ihr unter­legen ist, dämpfen will. Er vertritt möglicherweise die Auffas­sung, dass Ehefrauen nicht berufstätig sein, sondern zu Hause bleiben sollten, dass die Aufzucht der Kinder ausschließlich ihre Sache sei, oder dass man ihnen nicht gestatten solle, die Familienfinanzen zu verwalten. Vielleicht ist er sogar der Ansicht, dass man eine Ehefrau bestrafen oder zumindest ihr Schuldgefühl erwecken sollte, wenn sie mit dieser willkürlich festgelegten Form der Ehe nicht einverstanden ist. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Ehemann gleichzeitig wohltönende Phrasen über Fairness und Geben und Nehmen in der Ehe von sich gibt.
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Eine persönlich unsichere Ehefrau kann ebenfalls ihrer Ehe eine mani­pulative Struktur auferlegen, um auf diese Weise ihre Angst, dass sie das Unbekannte nicht bewältigen kann, zu dämpfen. Sie kann das Recht ihres Mannes auf Selbstbeurteilung seines Verhaltens beeinträchtigen, indem sie ihn versteckt oder sogar mit offener Herablassung wie ein verantwortungsloses Kind behandelt. Sie gesteht ihm zwar die Freiheit zu, für den Lebensunterhalt beider zu arbeiten, aber da sie ihm nicht vertraut, versucht sie, alle seine sonstigen Aktivitäten zu kontrollieren und sein Schuldgefühl zu erwecken, wenn er mit ihren starren Methoden der Problem­be­wäl­ti­gung nicht übereinstimmt. Genauso wie es auf den Fall der manipulierten Ehefrau zutrifft, muss auch der manipulierte Ehemann glauben, dass seine Frau ihn so behandeln darf, bevor er überhaupt manipuliert werden kann. Er muss selbst glauben, dass er nicht sein eigener Richter ist, ehe die ihm von seiner Frau auferlegte Struktur eine manipulative Wirkung haben kann. Wenn er das nicht glaubt, wird jeder Versuch seiner Frau scheitern, ihn manipulativ zu behandeln.
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Gesetzliche Vorschriften sind willkürliche Regeln, die von der Gesell­schaft akzeptiert werden, damit man mit ihrer Hilfe Verhal­tens­formen, welche die Gesellschaft zu unterdrücken wünscht, mit negativen Konsequenzen bestrafen kann. Ebenso wie ethische Gebote haben auch Gesetze nichts mit einem absoluten "Richtig" und "Falsch" zu tun. Systeme von "Richtig" und "Falsch" wendet man an, um die Gefühle und das Verhalten anderer zu manipu­lie­ren. Gesetze werden gemacht, um dem Verhalten Grenzen zu setzen und Streitfragen zu entscheiden. Aber Sie haben immer die Entschei­dungs­freiheit, ein Gesetz zu brechen und die Folgen auf sich zu nehmen. Wer von uns hat noch nie die Entscheidung getroffen, gegen die Straßenverkehrsordnung zu verstoßen und Strafe zu bezahlen, falls er dabei erwischt wird? Wir übernehmen die Verantwortung für diese Entscheidung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Viele Menschen verwechseln jedoch Systeme von "Richtig" und "Falsch" mit gesetz­lichen Vorschriften. Für die meisten Gesetzgeber, Richter und Justizbeamten sind die Begriffe "Richtig" und "Falsch" genauso verwirrend wie für uns. Die immer wieder auftretenden gesetzlichen und juristischen Probleme bei der Kontrolle richtiger und falscher Verhaltensformen demon­strie­ren diese Verwirrung. Die Koppelung von Gesetzes­vor­schrif­ten mit Systemen von "Richtig" und "Falsch" verwandelt die Gesetze in Instrumente der manipulativen emotionalen Kontrolle.