Im Zeitalter der Verträge

Von Shinichi Hoshi, aus "Ein hinterlistiger Planet", © Heyne-Verlag.

N war Besitzer einer kleinen Druckerei. Die Geschäfte gingen gut. Jeden Morgen saß er in seinem Büro am Schreibtisch, prüfte Berichte und Bücher oder empfing einen Kunden.

"Ein Mann von einer Papierfabrik ist hier, um eine Zahlung entgegenzunehmen", meldete seine Sekretärin.

"Führen Sie ihn herein."

Die Tür ging auf, und der Mann trat ein, gefolgt von seinem Rechtsanwalt.

N forderte die beiden auf, Platz zu nehmen und murmelte ein paar vage Begrüßungsworte. Mehr als nur das allernötigste zu sagen, wäre als unpassend empfunden worden.

"Tut mir leid, wenn ich Sie um etwas Geduld bitten muss, aber mein Anwalt wird jeden Moment hier sein", entschuldigte sich N.

Die Anwesenheit ihrer beiden Anwälte bedeutete nicht etwa, dass sich N und der Papierhersteller in einem Rechtsstreit befun­den hätten. Die Zeit, in der sie lebten, brachte das mit sich. Jeder Aspekt des Lebens wurde durch Verträge geregelt, und das nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich. Wollte man in einer solchen Zeit in Ruhe und Frieden leben, ohne ständig in Schwierigkeiten verwickelt zu werden, dann musste man sich im voraus gegen alles absichern.

Was immer man vorhatte, man tat es besser nicht ohne Anwalt. Genauer gesagt, es ging gar nicht ohne. N hätte gerne einen Anwalt vollzeitbeschäftigt, aber das schien ihm zu teuer. Deshalb ließ er nur im Bedarfsfall einen kommen.

N's Anwalt war bald da. "Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich ver­spätet habe. Lassen Sie uns sofort beginnen, mit unserer finanziel­len Angelegenheit meine ich. Ich habe alle nötigen Schriftstücke aufge­setzt."

Während er dies hektisch hervorstieß, öffnete er seine große Akten­tasche und kramte darin herum. Der andere Anwalt legte ebenfalls einen Stapel Dokumente auf den Tisch.

In der guten alten Zeit hätte man hier nichts weiter benötigt als eine Rechnung und eine Quittung, aber das war lange her. Heutzutage hatte man Formulare, die über und über mit komplizierten Klauseln bedeckt waren, lauter Kleingedrucktes, vorn und hinten. Ein Blick genügte und man wusste, dass sie ganz und gar unverständlich waren.

Deshalb war es ein solches Risiko, die Dinge dadurch beschleu­ni­gen zu wollen, dass man auf Anwälte verzichtete. Das Kleingedruckte war tückisch; es verbarg viele ausgeklügelte Fallen, und in irgendeine davon tappte der Neuling bestimmt hinein. Und das System war beileibe nicht geneigt, einen, der einmal in der Schlinge hing, wieder loszulassen. Wer ließe sich schon die Chance entgehen, Geld einzu­streichen, das ihm rechtens zustand? Jeder musste selber sehen, wo er blieb. Es konnte vorkommen, dass man eine Summe, die man bereits bezahlt hatte, nochmals bezahlen musste, nur weil einem in den Papieren ein Fallstrick entgangen war.

Natürlich konnte man die Sache vor Gericht ausfechten, aber das bedeutete einen ungeheuren Aufwand an Zeit und Geld: Wenn man verlor, den Ruin; und Verluste, selbst wenn man gewann. Dazu kam noch die nervliche Belastung. Es war also letzten Endes erheblich billiger, einen Anwalt zu beschäftigen. Sein Honorar gehörte zu den gesetzlich anerkannten Spesen und konnte im voraus auf den Preis der eigenen Produkte aufgeschlagen werden.

N wollte gerade ohne besondere Aufmerksamkeit seine Unterschrift auf die vor ihm liegenden Dokumente setzen, als sein Anwalt ihn zurückhielt und ihn wichtigtuerisch belehrte:

"Nein, nein, so geht das nicht! Das Gesetz ist vor kurzem revi­diert worden: Sie müssen hier unterschreiben! Jedes Dokument, auf dem die Unterschrift noch an der alten Stelle steht, ist null und nichtig; man könnte dann die Zahlung ein zweites Mal von Ihnen verlangen und Sie hätten keinerlei Handhabe dagegen. Zum Glück habe ich sie gerade noch rechtzeitig davor bewahrt. Die Fol­gen wären furchtbar gewesen, wenn ich nicht ein wachsames Auge auf Sie gehabt hätte. So ist nun einmal das neue Gesetz zur Abfassung von Verträgen."

Sein Anwalt deutete auf eine Seite in einem dicken Gesetzbuch. Die Überschrift lautete: "Ausführungsbestimmungen betreffend das For­mat von Dokumenten, die die Zahlung und den Empfang von Bargeld bestätigen; Abschnitt Geschäftsabschlüsse, Paragraph 5, Ergän­zungs­bestimmung Nr. 25, Zeile 3."

N nickte ergeben. Er war unglücklich darüber, dass ihm gar keine andere Wahl blieb als auf den Rat seines Anwalts zu vertrauen.

Wie schön wäre es doch, wenn es ein einfaches Büchlein mit ein paar Regeln gäbe! dachte er. In der guten alten Zeit waren solche handlichen Führer durch den Paragraphenwald zu haben gewesen, aber die Anwaltskammer hatte die Oberhand gewonnen und ihren Einfluss darauf verwendet, dass die Gesetze in einer kompli­zier­ten, verschlüsselten Sprache abgefasst und so gut wie jedes Jahr geän­dert wurden. Niemand, der nicht selbst Jurist war, hatte hier noch die Chance, durchzublicken. Selbst die Regierung war machtlos. Wenn sich je ein Abgeordneter diesbezüglich einen Versprecher leistete, dann wurde er sofort der Verletzung der Wahlgesetze bezichtigt und stets für schuldig befunden. So waren eben alle auf die Juristen angewiesen.

"Was kann ich allein da ausrichten?" murmelte N vor sich hin, während er seine Unterschrift dorthin setzte, wo der Anwalt es vorge­schrie­ben hatte. Solange er tat, was der Anwalt sagte, nahm der Anwalt die Verantwortung für alles auf sich, was sich eventuell später daraus ergeben würde.

Schließlich war es dann soweit, und N leistete seine Zahlung an den Papierhersteller. Da an dem Tag eine ganze Anzahl von Rechnungen fällig war, kamen mehrere Zahlungsempfänger in sein Büro. Nachdem N alle Rechnungen beglichen hatte, ließ er den Anwalt drei Post­karten mit Inhaltsbeglaubigung schreiben. Die eine schickte er an jemanden, der ihn tags zuvor aufgesucht hatte. Sie lautete: "Grüße. Sie haben hier anscheinend etwas liegen lassen, das nach einem offiziellen Schriftstück aussieht. Haben Sie es vergessen? Wir behal­ten uns das Recht vor, es in unserem Papierkorb zu deponieren, falls binnen einer Woche von Ihnen noch keine Antwort vorliegt." Die anderen Postkarten waren ähnlichen Inhalts. Man konnte einfach nichts in eigener Ver­ant­wor­tung tun,

Wieder einmal hatte der Anwalt alles geregelt. Am Nachmittag beschloss N, in einem Warenhaus ein paar Einkäufe zu machen.

Er ging nach draußen und winkte ein Taxi heran. Als das Taxi hielt, rief er einen Passanten. Da er einen Vertrag mit dem Taxi­fahrer abschließen wollte, damit dieser ihn zu dem Kaufhaus fuhr, bat er den Passanten, als Zeuge zu fungieren. Der Passant war einverstanden und setzte seine Unterschrift auf die erforderlichen Schriftstücke. Anschließend zahlte ihm N ein kleines Honorar. Zu dieser Art Vorgang waren auch Nichtanwälte berechtigt, aber damit war ihr Spielraum auch praktisch erschöpft. Und wer konnte schon wissen, wie lange es noch dauern würde, bis auch das zu kompliziert geworden war, um es ohne einen Anwalt abzuwickeln?

Im Inneren des Taxis hing ein kleines Poster aus, attraktiv im Design und mit der Botschaft: "Anwälte sichern das Glück – auch Ihres!" Anscheinend verfügte die Anwaltskammer über einen Sonder­fonds für diese Art von Reklame.

Schläfrig, aus halb geschlossenen Augen, starrte N auf das Poster, als es plötzlich krachte. Sein Taxi hatte versucht, ein anderes Auto zu überholen und es dabei gestreift. Das Taxi war kaum zu Schaden gekommen, aber die Windschutzscheibe des anderen Wagens war zertrümmert und der Fahrer schien verletzt zu sein; er blutete.

Ein Fußgänger rief die Polizei an, und bald erschien ein Streifen­wagen mit heulender Sirene. Kurz darauf kam die Ambulanz und begann mit der Versorgung des Verletzten. Die Wunde schien nicht gefährlich.

Dann fuhr ein weiteres Fahrzeug, gleichfalls mit heulender Sirene, am Schauplatz vor. Ihm entstiegen Anwälte, die auf Verkehrs­fragen spezialisiert waren. Sie unterzeichneten Verträge mit den betroffenen Fahrern, die sie als deren Vertreter auswiesen, und begannen mit den Verhandlungen. Früher einmal hatten die Fahrer solche Sachen unter­einander ausgehandelt, aber auch das war schon lange her.

"Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" wandte sich ein dritter Anwalt an N.

"O ja, bitte", erwiderte N. "Ich möchte nicht unnütz Zeit verlieren. Ich habe einen Vertrag mit dem Fahrer, dass er mich bis zum Kaufhaus bringt. Ich möchte auf dieses Recht verzichten und bitte Sie des­halb, eine Einverständniserklärung aufzusetzen, die es ihm ermög­lichen würde, mich hier aussteigen zu lassen."

Der Anwalt hatte die diesbezüglichen Verhandlungen bald abge­schlossen und kam zu N zurück, wobei er eine triumphierende Miene aufsetzte. Zufrieden bezahlte N dem Anwalt sein Honorar und konnte nun frei seiner Wege gehen.

Das Kaufhaus war nicht mehr weit; deshalb ging N den Rest des Weges zu Fuß. Eine riesige Menge von Einkaufsschreibern wartete am Eingang des Geschäftes. N unterzeichnete mit einem von ihnen einen Vertrag und ging hinein.

Ein Einkaufsschreiber besaß ein Staatsexamen, das ihn als Experten auf dem Gebiet derjenigen Gesetze und Verordnungen auswies, die mit dem Einkaufen zu tun hatten. Es war unmöglich, ohne seine Dienste auszukommen. Ohne ihn konnte man weder fehlerhafte Ware zurückgeben noch eine Beschwerde äußern, ja, man konnte sogar unter Umständen als Ladendieb behandelt werden. Eine falsche Bewegung – und das juristische Personal des Kaufhauses erschiene augenblicklich auf dem Plan, um den mutmaßlichen Gesetzesbrecher festzunageln und seine ganze Habe zu beschlagnahmen. Versuchte man etwa, gerichtlich dagegen vorzugehen, würde man feststellen, dass die Gerichte die Klage nicht annahmen. Das Resultat wären Elend und Erniedrigung – eine gute Lektion für Naive, die vielleicht noch auf den Gedanken verfielen, alleine einkaufen zu gehen. Ja, es war schon ratsam, stets die Dienste eines Einkaufsexperten in Anspruch zu nehmen.

Nachdem er seine Besorgungen gemacht hatte, ging N noch schnell in eine Bar. Es war schon Abend, und außerdem war er immer­hin heil aus einem Verkehrsunfall herausgekommen; das musste gefeiert werden.

"Hallo! Willkommen!" Eine kokette Stimme begrüßte ihn, als er die Bar betrat. "Wir haben Sie lange nicht mehr gesehen, Sie Schlimmer!" Die Stimme gehörte einem der jungen Männer, die in einer Gruppe hinter der Eingangstür warteten. "Wie wär's heute mit uns beiden? Wollen Sie unterzeichnen?" fragte der junge Mann. Er war von Beruf Zeuge für Geschäfte, die in den Bereich der öffentlichen Moral fielen.

"Okay", sagte N, "Sie sind angeheuert." Er setzte sich und bestellte: "Einen Brandy, bitte."

"Und für mich, Schätzchen?" säuselte die Bardame, die sich neben ihn gesetzt hatte.

"Okay", sagte N. Kaum hatte er das gesagt, ließ der berufs­mäßige Zeuge der Bardame, der hinter ihr saß, die Einladung durch N's berufs­mäßigen Zeugen bestätigen. ("So viel hätte ich gar nicht trinken können." – "Oh doch!" – "Sie haben versprochen, mir eine Brosche zu kaufen!" – "Bestimmt nicht!" Derlei Gerangel gab es nicht mehr.)

"Schön und charmant wie immer", sagte N zu der Bardame, während er an seinen Brandy nippte.

"Das kommt Ihnen sehr glatt über die Lippen."

"Wie wär's? Wenn Sie mal frei sind, könnten wir da nicht ...", fragte N mit einem Augenzwinkern.

"Entschuldigen Sie, mein Herr!" rief sein berufsmäßiger Zeuge ihn zur Ordnung. "Sie scheinen da so eine Art Versprechung zu machen. Aber, wie Sie wissen, sollten Sie Ihre Versprechungen in unzwei­deutiger Form abgeben."

N dachte einen Augenblick lang nach und vollendete dann den angefangenen Satz: "... einen Spaziergang im Park machen?"

"Einen Spaziergang im Park? Das klingt nicht gerade vielver­sprechend." Sie rümpfte die Nase. "Tut mir leid, ich ziehe ohnehin jüngere Männer vor. Das erinnert mich übrigens: Ihr Sohn studiert noch, nicht wahr?"

Ein bitteres Lächeln erschien auf N's Gesicht, als er das Thema wechselte und auf seinen Sohn zu sprechen kam. Aber er war stolz auf den Jungen, und deshalb nicht ganz und gar verstimmt.

"Ja, er macht bald sein Examen. Er ist nicht so dumm wie sein Vater, und ich freue mich schon darauf zu sehen, wie sein Stern aufgeht."

"Und was macht er nach seinem Examen?"

"Er wird selbstverständlich Anwalt. Das ist heute der Spitzen­beruf und hat glänzende Zukunftsaussichten. Die Juristen sind doch die eigentlichen Drahtzieher in diesem Staat. Sie können mit unbe­schränk­ter Nachfrage und Ausdehnung ihrer Kompetenzen rechnen. Deshalb habe ich horrende Summen in seine Ausbildung investiert."

"Bravo! Sie haben's geschafft! Gratuliere!"

"Danke, ich freue mich, dass Sie das sagen. Möchten Sie, dass ich Ihnen zum Zeichen meines Dankes vielleicht eine Handtasche kaufe?"

Die beiden Zeugen bestätigten dieses Versprechen und beglau­big­ten seine Gültigkeit.

"Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist", sagte die Bardame glücklich. "Genau das, was ich mir gewünscht habe ... Ihre Geschäfte scheinen gut zu gehen."

"Nun, ich kann nicht klagen", sagte N und fühlte sich großartig. "Sie haben doch eine Druckerei, nicht wahr?"

"Ja, ganz recht. Wir machen ein Bombengeschäft mit Formularen: für Verträge, Bewerbungen, Beglaubigungen und was es da so gibt. Die Aufträge gehen nie aus, weil sich die gesetzlichen Vorschriften über Format und Gestaltung der Formulare fast jeden Monat ändern. Das Zeitalter der Verträge – für mich heißt das: Geld wie Heu!"


Shinichi Hoshi, am 6.9.1926 in Tokio geboren, studierte Agrikultur­chemie, bevor er die väterliche pharmazeutische Firma übernahm. Nach kurzer erfolgloser Unternehmertätigkeit gab er auf und widmete sich dem Schreiben. 1957 erschien seine erste SF-Story. Er hatte auf Anhieb Erfolg. Bis 1982 (Datum dieser Beschreibung) hatte er mehr als 1000 Erzählungen geschrieben, Krimis, Drehbücher fürs Fernsehen und ein beliebtes natur­wissen­schaft­liches Sachbuch für Jugendliche. Shinichi Hoshi ist einer der größten Autoren Japans. Seine "short-short-stories", als deren Begründer er in Japan gilt, erschienen in allen führenden Zeit­schrif­ten seines Landes.

Die Geschichten, die ich von ihm kenne, werden zum Bereich "Science Fiction" gerechnet. Aber ich habe das Gefühl, dass sie (wie auch die obige Geschichte) gar nicht so "fiction" sind.