Realität und Wirklichkeit

Einführung

Dieser Text ist Ausschnitt eines Aufsatzes über die Wirkung psycho­lo­gi­scher Mechanismen auf die Softwaretechnologie.
Er enthält ausschließlich den psychologischen Teil.

Die neuere kognitive Psychologie behauptet, daß viele bisher zur Problem­lösung benützten Techniken – vor allem die ausführliche Diskussion in Gruppen – leicht zum genauen Gegenteil des gewünschten Effekts führen. Ihr Ergebnis kann unter Umständen eine "Realitätsablösung" sein; die "Wirklichkeit" aller Beteiligten, d.h. die Menge der von ihnen für zutreffend gehaltenen Aussagen entfernt sich von der "Realität", d.h. den objektiv wahren Sachverhalten. Zahlreiche Experimente belegen dies inzwischen.

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Definition

Die neuere Wissenschafts-Theorie und die moderne Psychologie stellen zwei früher als Synonyme betrachtete Begriffe als ein Gegen­satz­paar heraus:

Diese Begriffsunterscheidung wirft neues Licht auf einige Begriffe, die für jede Wissenschaft ebenso wie für die praktische Arbeit wesentlich sind.

So ist eine Theorie grundsätzlich nicht Teil der Realität, sondern immer ein (formalisierter) Teil der Wirklichkeit. Wie für jeden Teil einer Wirklichkeit kann es deshalb auch bei der Entwicklung von Theorien zur Realitätsablösung kommen: die von der Theorie beschriebenen Sachverhalte mögen zwar logisch konsistent und anschaulich einsichtig sein, haben aber unter Umständen mit der Realität nichts mehr zu tun oder stehen mit ihr sogar in direktem Widerspruch.

Zumindest im Bereich der westlichen Zivilisation gilt es als Axiom, daß derartige Realitätsablösungen von Übel sind. Jeder einzelne soll ebenso wie eine Gruppe um die Vermeidung von Realitäts­ablösungen bemüht sein. Als eine der wichtigsten Aufgaben des Menschen wird die "Erkenntnis" angesehen, d.h. das Aufspüren von Konflikten zwischen Wirklichkeit und Realität sowie deren Behebung durch Anpassen der – subjektiven – Wirklichkeit. Das entgegengesetzte Verhalten, ein ignorieren der Realität im Interesse einer Wirklichkeit, z.B. einer bestimmten Theorie, wird gemeinhin sogar als Zeichen psychischer Störungen betrachtet: es ist etwa ein wesentliches Symptom der Paranoia.

Nur beiläufig sei gesagt, daß derartige Anpassungen der Wirklichkeit an die Realität, die in der Regel durch "Realitäts­be­geg­nun­gen", d.h. ungewollte Erlebnisse oder bewußte Experimente notwendig werden, für die Psyche eines Einzelnen als auch für eine Gruppe zu sehr ernsten, teilweise fast unüberwindlichen Konflikten führen. Die Wissen­schafts­geschichte ist voll von Bei­spie­len für derartige Schwie­rig­kei­ten des Erkenntnisprozesses, und Thomas Kuhn baut auf dem Begriff des "Paradigmenwechsels" d.h. dem mühsamen Prozeß des Ersetzens eines alten Theorie­gebäu­des durch ein der Realität besser angepaßtes neues, sogar eine theoretische Grundlage der Wissen­schafts­historie auf.

Bevor nun die Anwendung dieser Theorien auf unsere Wissen­schaft, die Informatik, und ihre praktische Anwendung in der Software-Technologie eingegangen werden soll, empfiehlt es sich, durch die Beschreibung einiger einschlägiger Experimente ihren Reali­täts­bezug herzustellen.

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Experimentelle Ergebnisse

Neben den zahlreichen Beispielen aus dem Gebiet der Wissenschaft, welche etwa in den bereits zitierten Büchern von Thomas Kuhn nachgelesen werden können, wurden von Psycho­lo­gen eine große Zahl von Versuchen durchgeführt, die insbe­son­de­re den Prozeß der Theoriebildung und den Erkenntnis­wert von Diskussionen zwischen Einzelnen und in Gruppen betreffen. Material hierzu ist z.B. in den Büchern von Watzlawik zu finden. Wegen der Relevanz für unser Thema sollen hier jedoch zwei derartige Experimente ausführlicher beschrieben werden.

Im ersten derartigen Experiment (vgl. Abb. 1) wurden zwei Menschen, die keine medizinischen oder biologischen Vorkennt­nis­se hatten, Dias mit Blutbildern vorgeführt. Ihre Aufgabe war, durch Drücken jeweils eines Knopfs mit ja oder nein zu entscheiden, ob das gerade vorgeführte Dia krankes oder gesundes Blut zeigte. Der einen Versuchsperson wurde durch Aufleuchten von Lampen, die über den Schaltern angebracht waren, anschließend jeweils mitge­teilt, ob sie korrekt oder falsch geraten hatte. Auch die andere Versuchsperson erhielt entsprechende Lampensignale. Bei ihr erfolgten die Rück­meldun­gen jedoch statistisch, ohne Bezug auf die Richtigkeit ihrer Aussage.

Bild 1

Nach etwa 50 Dias lernt nun diejenige Versuchsperson, der korrekte Rückmeldungen über ihr Urteil gegeben werden, "instinktiv" gesun­des von krankem Blut zu unterscheiden, und sie macht kaum noch Fehler. Bei der anderen kann ein derartiger Lerneffekt nicht ein­tre­ten, und ihre tatsächliche Fehlerrate ändert sich nicht.

Allerdings bildet sie sich eine "Theorie", zumindest wenn sie aus dem wissenschaftlich-akademischen Bereich stammt, aus dem in der­ar­ti­gen Experimenten Versuchspersonen üblicherweise ausgewählt werden. Dies zeigt sich, wenn man anschließend die beiden Ver­suchs­personen über das Problem der Erkennung von gesundem und krankem Blut auf Blutbildern diskutieren läßt. In der Regel bestreitet die zweite, über die "Realität" im unklaren gehaltene Versuchsperson hier den wesentlichen Teil der Diskussion, da die andere allenfalls über eine sehr einfache und meist noch nicht einmal in Gedanken ausformulierte Theorie verfügt. Dementsprechend beeindruckt bis beschämt ist sie dann auch über die komplexen und schwierigen Erkenntnisinhalte, die ihr Partner über eine Aufgabe zu sammeln vermochte, über die sie selbst kaum ernstlich nachgedacht hat. Folglich ist sie gefühlsmäßig bereit, zumindest Teile der Theorie des Diskussions­part­ners zu übernehmen.

Die Folgen zeigen sich, wenn anschließend wiederum Blutbilder auf die gleiche Weise beurteilt werden sollen. Die erste Versuchs­person ist dann durch die gehörten Theorien derart verunsichert, daß ihre Ergebnisse signifikant schlechter sind als am Ende der ersten Dia-Serie.

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Das zweite Experiment über das hier berichtet werden soll, demonstriert das gleiche Phänomen in einer Gruppe (vgl. Abb. 2).

Einem Oberseminar von Psychologie-Studenten wurde die Aufgabe gestellt, von zwei Freiwilligen aus ihrem Kreise eine möglichst genaue Personenbeschreibung –  vom äußeren Aussehen bis zur Persönlichkeits­struk­tur – anzufertigen. Während der ersten Seminarveranstaltungen wurden die beiden Versuchspersonen eingehenden Interviews unterzogen über alles das, was den Übrigen Seminarteilnehmern zur Lösung ihrer Aufgabe signifikant erschien. Dann fehlten die beiden Beschreibungsobjekte plötzlich, und der Seminarleiter teilte den Studenten mit, sie seien bedauerlicherweise durch andere Verpflichtungen am weiteren Besuch des Seminars verhindert. Er meine jedoch, daß in den vorhergehenden Sitzungen genügend Tatsachen über die beiden Personen ermittelt worden seien, so daß man wohl den Rest des Semesters der gründlichen Diskussion und Aufbereitung dieses Materials widmen könne. Dies geschah denn auch, und die Seminarteilnehmer erarbeiteten zur letzten Veranstaltung des Semes­ters gemeinsam ein Persön­lich­keits­profil ihrer Versuchs­objek­te.

Die große Überraschung kam nun in dieser letzten Sitzung. Die beiden Versuchspersonen – mit denen dies natürlich abgesprochen war – erschienen zu dieser Veranstaltung wieder. Es stellte sich heraus, daß von den gemeinsam erarbeiteten Personen­be­schrei­bun­gen nicht viel mehr als das Geschlecht der Personen noch stimmte. Mangels laufender Korrektur durch "Realitäts­be­geg­nun­gen" mit dem Gegen­stand ihrer Arbeit hatte sich während und durch die Diskussionen im Seminar die durchaus als objektiv empfundene Wirklichkeit der immerhin wissenschaftlich geschulten Gruppenmitglieder völlig von der Realität entfernt. Sie war durch ein "Kommunikationsphantom" ersetzt worden.

Bild 2

Wichtig in beiden Experimenten ist, daß sie in einer weitgehend angst- und autoritätsfreien Umgebung abliefen. Die häufige Erklärung für eine realitätsablösende Wirkung von Diskussionen auf einzelne Menschen, nämlich psychologischen Druck durch eine Gruppe, ein "System" oder eine irgendwie mit "Macht" ausge­stat­te­te Instanz, war hier nicht gegeben. Auch eine Manipulation des Einzelnen lag – abgesehen von der bewußten Verschleierung des eigentlichen Zwecks der Experimente – nicht vor.

Wir müssen also als Resultat akzeptieren, daß auch disziplinierte Diskus­sionen bei völligem Willen zur Objektivität aller Beteiligten eher eine Realitätsablösung als eine echte "Erkenntnis" der wah­ren Gegeben­heiten fördern, zumindest wenn sie nicht laufenden Expe­ri­menten oder bewußter Überprüfung an den realen Ereig­nis­sen und Erfahrungen unterworfen werden. Andernfalls scheinen Selbst­ver­stär­kungs­mecha­nismen innerhalb einer diskutierenden Gruppe die ohnehin in fast jedem Menschen latent vorhandene Neigung zur Realitätsverleugnung im Interesse einer ihn und seine Vor­urteils­strukturen optimal befriedigenden Wirklichkeit eher noch zu fördern.

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