Was mich an Esperanto fasziniert

Dann sagten Sie: "Wohlan, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht! Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen!" Da stieg Jahwe herab, um die Stadt und den Turm anzusehen, den die Menschen gebaut hatten. Und Jahwe sprach: "Siehe, sie sind ein Volk und sprechen alle eine Sprache. Das ist erst der Anfang ihres Tuns. Fortan wird für sie nichts mehr unausführbar sein, was immer sie zu tun ersinnen. Wohlan, wir wollen hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht!" Da zerstreute Jahwe sie von dort über die ganze Erde. (Genesis 11,4-8)

Dieser Zustand währte Tausende von Jahren. Die Folge waren Missverständnisse, Vorurteile, Rassenverfolgung, Krieg. Dann hatte Zamenhof, ein polnischer Augenarzt jüdischer Abstammung die Idee, eine gemeinsame Welthilfssprache zu schaffen. Aus den vielen Sprachen, die er beherrschte, mischte er einen Grund­wortschatz zusammen, fügte nur sechzehn Grammatikregeln hinzu, und nannte das Ergebnis "Esperanto". Im Laufe von 100 Jahren wurde diese Sprache von ihren Anhängern mit Leben erfüllt, so dass sie in ihrer Leistungsfähigkeit und Kultur keiner natürlichen Spra­che nachsteht. Während dieser Zeit scheiterten sowohl Versuche, etwas besseres zu erfinden, als auch Versuche, sie durch Verbote auszurotten.

Soweit die Geschichte. Ich erfuhr als Schüler zum erstenmal von Esperanto. Ich fand das eine gute Sache, hatte aber persönlich (noch) kein Interesse. Mitte 20 stieß ich wieder darauf, und fand Anschluss an die Bewegung. Der pseudoreligiöse Eifer mancher Anhänger stieß mich etwas ab, aber das hinderte mich nicht daran, die Sprache selbst zu unterstützen und sogar zu lernen. Sechs Jahre hatte ich mich in der Schule mit Englisch gequält, und doch reichen meine Kenntnisse gerade mal für das Lesen englischer Texte mit Hilfe eines Wörterbuchs. In Esperanto erreichte ich die gleiche Leistung bereits nach sechzehn Stunden Selbststudium. Inzwischen habe ich Schriftwechsel mit dem Ausland, der mir in dieser Tiefe in keiner anderen Sprache möglich wäre.
Man kann mit Esperanto trotz geringer Sprachbegabung weltweite Kontakte pflegen. Aber Vorsicht: Ein neuer Kontakt- und Freundes­kreis muss immer erst erschlossen werden. Wärme und Verstehen ist eine Frage des Herzens, und nicht der benutzten Sprache. Esperanto ist nur ein Werkzeug, aber kein Wundermittel.

Was mich an Esperanto fasziniert ist zweierlei:
Seine Leistungsfähigkeit und seine Philosophie.

Mit seinem gereiften Wortschatz und seinen wenigen, einfachen, aber vielseitig kombinierbaren Regeln für Grammatik und Wort­bil­dung kann man in Esperanto alles ausdrücken, was in irgend einer europäischen Nationalsprache möglich ist. Trotzdem ist es durch das Fehlen von Ausnahmen und Unregelmäßigkeiten für jeden erlernbar. Esperanto verhält sich zu den natürlichen Sprachen, wie der Buchdruck zur Handschrift.

Ebenso zu loben ist die dahinterstehende Philosophie.
Esperanto will die Nationalsprachen (und damit die an diese gebundenen Kulturen) nicht ersetzen, sondern nur ein Hilfsmittel zur Verständigung zwischen den Bürgern aller Staaten sein. Informationsaustausch und Verständigung zwischen den einfachen Leuten, nicht gefiltert von Politikern, Medien oder gar Demagogen. Nicht ohne Grund haben Hitler und Stalin versucht, in ihrem Machtbereich Esperanto auszurotten.

Selbstverständlich hat jedes Werkzeug auch Nebenwirkungen. Wer eine Sprache benutzt, wird zwangsläufig auch von ihrer Kultur beeinflusst. Wir können heute beobachten, wie das als Hilfssprache mühsam benutzte Englisch oder vielmehr Amerikanisch nicht nur in die anderen Sprachen hineinwuchert, sondern auch die Kulturen der anderen Länder amerikanisiert. Bei Esperanto wäre diese Nebenwirkung geringer, weil die hinter Esperanto stehende Kultur von keiner Nation majorisiert ist. Esperantisten sind Weltbürger. Wer etwas von Esperanto hält kann durchaus stolz auf seine Nationalität sein, aber kein Nationalist, der Bürger anderer Länder für minder­wertig hält. Ist diese "Nebenwirkung" nicht sogar positiv?

ca. 1990