THOMAS, 37 Jahre, und SANDRA, 38 Jahre

THOMAS: An meine Tochter Melanie

Wenn Du diese Zeilen liest, werde ich schon lange tot sein, denn ich habe beschlossen, daß der heutige Tag mein Todestag ist. Deine Mutter wird Dir erklären, warum dies so ist. Glaube mir, viel lieber hätte ich mit Dir gelebt.

(Thomas starb bei einem Autounfall. Er raste in Süditalien gegen den Betonpfeiler einer Autobahnbrücke. Er war sofort tot. Seinen Abschieds­brief an seine Tochter fand man in seinem Banksafe. Dort befand sich auch ein Testament, aus dem hervorging, daß Thomas seinen gesamten Besitz einer karitativen Einrichtung vermacht hatte. Aus dem Datum ging hervor, daß Thomas dieses Testament an dem Tag verfaßt hatte, an dem Sandra ein gemeinsames Sorgerecht endgültig verweigert hatte. Zwischen der notariellen Beglau­bi­gung des Testaments und Thomas' Tod lagen elf Tage.)

SANDRA: Das Kind ist aus meinem Bauch

Ich war damals Mitte Dreißig. Alles, was mir beruflich vorgeschwebt war, hatte ich erreicht. Ich besaß eine schöne Wohnung, ein Auto, um das mich die Männer beneideten, etwas Geld auf der Bank. Aber irgendwie fühlte ich mich ziemlich leer. War's das schon? dachte ich. Immer derselbe Trott, derselbe Streß. Ich fand, es wurde Zeit, an die Zukunft zu denken.
Also begann ich, mich nach einem geeigneten Mann umzusehen. Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie er beschaf­fen sein müßte.
Schließlich lernte ich ihn kennen. Er hieß Thomas, war Zahnarzt mit eigener Praxis und hatte Geld genug für Frau und Kind.
Ich sorgte dafür, daß er auf mich aufmerksam wurde. Es fiel mir nicht schwer, mich zu verlieben. Ich machte mir sogar ziemlich viel aus ihm. Er machte sich bald auch ziemlich viel aus mir. Er lud mich ein, zu ihm zu ziehen.
Seine Wohnung war nichts Besonderes, aber gemütlich. Ich zog gerne ein. Allerdings behielt ich heimlich meine eigene Wohnung und arbeitete weiterhin.
Es dauerte fast ein Vierteljahr, ehe ich schwanger wurde. Ich hatte jahrelang die Pille genommen und eigentlich damit gerechnet, sofort schwanger zu werden, sobald ich sie absetzte. Es war eine Über­raschung, daß es so lange nicht klappte. Aber da meine Frauenärztin mir versichert hatte, daß alles mit mir in Ordnung sei, machte mir das Warten nichts aus. Es gefiel mir sogar. Es steigerte die Vorfreude. Thomas erzählte ich nichts. Ich fand, es ging ihn auch nichts an.
Als ich es endlich geschafft hatte, schwanger zu sein, teilte ich es Thomas mit. Er fiel aus allen Wolken, wollte mich aber sofort heiraten. Also taten wir es.
Meine Tochter Melanie kam ein halbes Jahr später auf die Welt. Thomas störte jetzt wahnsinnig.
Ich hatte mich mit diesem Mann eingelassen, weil ich ein Kind von ihm haben und anschließend finanziell auf der sicheren Seite stehen wollte. Die Romanze zwischen uns war zu Ende. Das war mir eigent­lich schon vor Melanies Geburt klar. Im Grunde hatte ich nur noch abgewartet, ob mit dem Kind alles in Ordnung war. Ein behindertes Kind hätte ich keinesfalls bei mir behalten.
Thomas rechnete damit, daß ich eine Woche nach der Entbindung nach Hause kommen würde. Er tat mir leid, weil er sich so dafür begei­stern konnte, wie wir in seiner Wohnung hausen und glücklich wie die Turteltauben sein würden. Aber mein Entschluß war gefaßt. Ich verließ das Krankenhaus schon am vierten Tag, ohne Thomas zu benachrichtigen.
Meine Zugehfrau hatte in der Zwischenzeit meine eigene Wohnung in Ordnung gehalten. Als ich mit meinem Kind zur Tür hineintrat, kam es mir vor, als wäre ich nie fort gewesen.
Thomas tat mir durchaus leid. Ich bin schließlich kein Hackklotz. Vor allem, als er sich dann das Leben nahm. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen. Melanie ist mein Kind. Ich bin ihre Mutter. Dieses Kind ist in meinem Bauch gewachsen. Und ich habe es unter Schmerzen zur Welt gebracht. Thomas war mehr oder weniger ein Zufallsmann. Er hatte ein Zehn-Sekunden-Glück bei der Sache. Mehr nicht.
Pech für ihn war, daß Männer heute in puncto Liebe per Gesetz zur Kasse gebeten werden, ihre Kinder aber nicht bekommen. Worüber ich mich durchaus nicht beklage. Es ist ja voll und ganz in meinem Sinn. Ich will damit sagen, daß ich mich nicht zu schämen brauche. Ich habe von dem Erzeuger meines Kindes verlangt, was mir gesetz­lich und rechtmäßig zusteht.
Ich schrieb ihm, daß ich ihn freigebe und die Scheidung wolle. Ich schrieb ihm, daß er uns auch freigeben solle.
Aber dummerweise hatte Thomas andere Vorstellungen als ich. Jetzt auf einmal kam dieser Mann daher und behauptete, mein Kind sei sein Kind. Forderte Mitspracherecht bei der Erziehung, forderte mein Kind für sich. Ich habe nie eingesehen, mit welchem Recht. Etwa mit dem Recht des Chromosomensatzes, den er anteilig an meinem Kind geliefert hat? Ja, erwirbt sich denn ein Kaufmann ein Recht, meinen Kuchen zu essen, nur weil er der Lieferant der Zutaten war?
Ich hatte Thomas geheiratet, weil ich ein Kind wollte und dieses Kind einen Vater haben sollte, für den es sich nicht schämen müßte. Ich hatte einen Mann als Erzeuger für dieses Kind ausgesucht, der Geld genug hatte, um die Erziehung zu sichern und zu garantieren, daß ich als Mutter Zeit genug für mein Kind haben würde. Aber ich hatte ihn nicht geheiratet, um für immer und ewig mit ihm Händchen zu halten.
Ich versuchte, Thomas alles zu erklären. Ich habe ihm mindestens drei, vier Briefe deswegen geschrieben. trotzdem wurde das erste Jahr nach unserer Trennung ziemlich hart für mich. Thomas versuch­te mit allen Tricks, zumindest das Kind zurückzuholen.
Aber ich hatte eine Spitzenanwältin genommen. Sie machte ihre Sache wirklich gut. Nach dem obligatorischen Trennungsjahr wurden Thomas und ich endlich geschieden. Melanie wurde mir zugesprochen.
Daß Thomas sich zwei Monate später das Leben nehmen würde, war nicht eingeplant und von mir auch nie beabsichtigt. Es tut mir natürlich leid.
Wirklich schlimm ist, daß Thomas kaum Geld hinterlassen hat, so daß Melanie und ich ziemlich dumm dran sind. Seine Eltern haben zwar versprochen, daß sie einen Teil der Kosten für Melanie über­neh­men, aber das ist ja nichts Reelles. Das beunruhigt mich schon. Da weiß ich auch noch nicht, wie ich damit umgehe. Es sei denn, ich heirate noch mal.
Ob ich mich schlecht dabei fühlen werde?
Nein, eigentlich nicht. Eher so wie nach einem gelungenen Coup.