Mal ist er Schaukelpferd, mal Turm

Vater geht nicht so schnell kaputt

von Kilian Merten

Ich duze mich mit ihm von seiner Geburt an. Er ist mein Sohn. Manch­mal möchte ich "Sie" zu ihm sagen. Dann etwa: "Knallen Sie doch nicht so mit den Türen!" Oder "Lassen Sie doch endlich meine Brille in Frieden!" Aber, wir duzen uns. Die außerordentliche Vertrau­lich­keit, die zwischen uns besteht, gilt ihm noch nichts. Er kann noch nicht "du" sagen. Ich bin für ihn etwas Lebendiges, das mit den Bei­nen wackelt und einen Mund hat, der wie ein Wau-Wau bellen, flöten und wie ein Huhn gackern kann. Das Wesentlichste für ihn mag sein: Ich gehe nicht kaputt.

Vielleicht ist das aber ein Nachteil; denn er kann mich nicht zerle­gen und täte es doch so gern. Bei der Nase würde er damit beginnen. Die Enttäuschung, nicht auseinandergeschraubt werden zu können, mache ich durch eine ungemein erheiternde Fähigkeit wieder wett. Wirft er eine Vase in die Ecke, klirrt es eben einmal und bleibt dann still. Wenn er mir aber den vollen Aschenbecher ins Gesicht schleu­dert, springe ich auf, brülle und ja – wie lustig! – renne hinter ihm her. Den Schlag auf seine Hand findet er verwunderlich, denn er schmerzt ihn. Aber dennoch: Es hat sich gelohnt, etwas unternommen zu haben, es war doch etwas los.

Und das Wesentlichste: Vater ist heil geblieben. Man kann gleich wieder etwas Neues mit ihm anstellen. Voller Jubel über solche Unver­wüst­lich­keit ruft er darum: Papa. Er versteht sich in der Betonung dieses Wortes ausgezeichnet und hat eine weit­ge­spann­te Skala, diesem Wort verschiedene Bedeutung zu geben. Je nachdem wie er Papa sagt, verwandle ich mich in ein Schaukel­pferd, in einen Kletterturm, in eine Brücke. Ich stehe auf einem Bein, krieche auf allen Vieren, flöte oder eile mit ihm zum Topf.

Wenn wir für einige Stunden allein sind, weil Mutti im Büro arbeitet, steigert sich seine Freude, mich zu bewegen, zu einem Rausch. Ich habe alles leicht bewegliche Gut vorher schon in Gipfel­lagen gebracht, die Tische abgedeckt, Blumentöpfe sicher verwahrt, die Stehlampen verankert und Stühle vor die Bücher­regale gestellt. Und dann kommt er, sehr eilig, stutzt, sieht sich verwundert die Verän­de­run­gen im Zimmer an und jagt einem mir noch verborgenen Ziel zu. Plötzlich dreht sich der Radioapparat auf dem Tischchen und droht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Leitungs­schnur liegt wie ein Ochsen­strick fest in seiner Hand. Die erste Auseinandersetzung beeinträchtigt unser Zusammensein gar nicht. Ich erinnere mich des Baukastens, und selbst zum Spielen ermuntert, versuche ich mich an einem Turm. Vergebens! Die kleine Hand fegt dazwischen, und die niederbrechenden Stock­werke werden zu Wurfgeschossen. Meine Lesebrille ist in Gefahr.

Um den Kampfplatz zu lokalisieren, entfalte ich eine Wolldecke und baue eine Höhle zwischen Sessel und Sofa. Wir hocken uns darunter; für mich ist das schon eine Leibesübung. Meine Buh-Laute, die das Geheimnisvolle und Düstere unseres Aufenthaltes steigern sollen, lassen ihn ungerührt. Die Höhle fährt plötzlich mit dem Sessel davon, und ich sitze neben dem Sofa. Er spielt indessen auf den Rippen der Zentralheizung mit einem Lineal Harfe. Wegen solchen Konzertierens hatte ich unlängst schon berech­tigte Beanstandungen meines Ober­mieters. Ich unterbinde das ebenso wie den Versuch, an der Gardine zu schaukeln.

Nun hüllt er sich in den Vorhang und singt dabei. Das ist gut, das schadet nichts und erfordert nicht meinen Beistand. Und wenn er singt, weiß ich, wo er sich aufhält. Ich hole mir die Zeitung vom Regal, lese und werde plötzlich von Unruhe erfaßt. Es ist so besorglich still. "Jochen" rufe ich. Schweigen. Ich entdecke ihn mit meiner Zigaretten­schachtel, um ihn herum Tabakkrümel Papier, Mundstücke.

Es wäre zeitraubend, die verschiedenartigsten Beschäftigungen aufzu­zählen, die mich an einem solchen Nachmittag in Bewegung halten. Doch endlich zeigt sich eine Spur von Müdigkeit in ihm. Er drängt auf meinen Schoß. Sein Aktionsradius ist auf mein Gesicht beschränkt. Mit dem nicht mehr gerade sehr sauberen Zeigefinger rupft er an meinen Lippen wie an einer Gitarrensaite, möchte meine Nasenlöcher erweitern und meine Ohren zusammenfalten, meine Augenbrauen roden und mich am Zwinkern hindern. Doch schließlich schläft er ein, das Köpfchen gegen die väterliche Brust geneigt, ein Bein über meinen Arm gehäkelt, die Hände, nach so fleißigem Greifen, Werfen, Brechen und Stoßen ruhen entspannt auf dem kleinen Bauch.

Ich sitze nicht gerade bequem. Hier zwickt es, dort zieht es im Schulter­blatt. Ein Arm schläft ein, im Nacken steigt schmerzhafte Starre bis zum Kopf. Die linke Wade hat Muskelzucken.

Aber ich halte aus.

Wenn wir "Sie" zueinander sagten, spräche ich jetzt: "Ach, ge­stat­ten Sie, würden Sie vielleicht die Freundlichkeit haben und sich andernorts ausschlafen?" Aber er ist mein Sohn und wir duzen uns. Für ihn war ich eben Schaukelpferd, Kletterturm und Höhlen­bauer – nun bin ich sein Schlafbaum, seine Burg. Nichts mehr – nichts weniger, aber viel genug, um für so ein Glück reichlich unbequem auszuharren.

Und ich habe ja auch noch keine Ahnung davon, daß hinter meinem Rücken drei Brotstückchen mit der Butterseite an der Tapete kleben.