von Wolfgang Anderweydt
Als der Betriebskrankenkassenschalterangestellte Herbert Fallmeyer eines Tages während eines heftigen Gewitters seine Unterlagen und Rezepte sortierte, bemerkte er vor dem Schalterfenster ein bläuliches Licht, welches weder von dem Widerschein der Blitze noch von einem Versagen der dienstlichen Kunststoffleuchten herrühren konnte. Obschon von Amts wegen an vieles gewöhnt, überraschte es ihn dennoch, als sich aus diesem Lichtschein eine geisterhafte Gestalt in weißem, faltigem Gewande hervortat und auf das Schalterfenster zukam. Es war ein Mann mit graumeliertem Bart und funkelnden schwarzen Augen. Und während er die Hand zum Gruße leicht erhob, sagte er die Worte: »Freue dich!«
Herbert Fallmeyer hatte das Abitur – wie anders wäre er sonst auf den Posten eines Sozialversicherungsschalterangestellten gelangt. Darum erinnerte er sich, dass >Freue dich!< der Gruß der alten Griechen war. Dieser Mann war mithin kein Fremdarbeiter, sondern ein Klassiker. Er zählte vielleicht zu den freiwillig Versicherten und war zumindest aus letzterem Grunde mit Respekt zu behandeln.
»Mein Freund«, sagte die Erscheinung darauf, »ich bin Hippokrates. Wärest du so liebenswert, mir über die Fragen der Gesundheit einige Auskunft zu geben?«
Hippokrates also, dachte Fallmeyer. Da hatte man es! Vater der europäischen Heilkunde und unzähliger in seinem Namen geschworener Meineide, kurzum, ein Mann der Prominenz! Kam er bereits von einem Frühstück mit der Werksleitung oder würde er erst später mit der Werksleitung zu Mittag essen? Vorsicht war in jedem Falle am Platze.
»Viel Spaß, Herr Geheimrat«, erwiderte er daher den Gruß des Alten. »Gewiss werde ich Ihnen alles erklären. Wollen Herr Geheimrat nur bitte fragen!«
»Ich war lange nicht mehr auf der Erde. In vielem kenne ich mich nicht mehr recht aus – wenn mir auch anderseits vieles sehr bekannt vorkommt. Sage mir also, mein Wohlgestalter – was tut man heute, um die Leiden der Kranken zu heilen und ihre Schmerzen zu lindern?«
»Jaaa…«, sagte Fallmeyer, »dazu ist eine Menge zu sagen. Wo soll ich da – warten Sie mal –, wo soll ich da am besten anfangen? – Also wir haben da einmal die Tätigkeit der gesetzlichen Sozialversicherungsträger. Hinzu kommt die im so genannten Lohnfortzahlungsgesetz begründete erweiterte Fürsorgepflicht der Arbeitgeber, welche in der Zahlung eines Zuschusses bis zu 100 Prozent des Nettoarbeitsverdienstes ihren Niederschlag findet.«
Der Besucher lehnte am Schalter und hatte den Kopf sinnend auf die Hand gestützt.
»Das musst du mir genauer erklären«, sagte er.
»Also verstehen Sie – wir haben doch seit langem schon die Pflichtversicherung der Arbeiter und Angestellten. Wenn nun einer a.u. wird…«
»Verzeih – was wird er?«
»A.u., arbeitsunfähig, Herr – äh – Obermedizinalrat – also eben zur Arbeit nicht mehr fähig!«
»Heißt das nicht >krank< in eurer Sprache?«
»Das ist nicht ganz dasselbe. Man kann krank sein, ohne deshalb zur Arbeit unfähig zu sein, und man kann umgekehrt arbeitsunfähig sein, ohne krank zu sein. Man kann natürlich – heheh – auch zur Arbeit ganz und gar unfähig sein, ohne arbeitsunfähig zu sein – aber das führt schon zu weit. Ich meine – es gibt nun viele Stellen, die sich mit der Sozialversicherung befassen. Wir haben die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Rentenversicherung. Anderseits haben wir auf dem Krankenversicherungssektor die AOK's, die LKK's, die BKK's, die IKK's – ach so, also die Ortskrankenkassen, die Landkrankenkassen, die Betriebskrankenkassen und die Innungskrankenkassen. Aber das sind nur die gesetzlichen Krankenversicherungsanstalten. Es gibt daneben natürlich noch die privaten Krankenversicherungen – für die, die mit ihrem Jahresarbeitsverdienst höher liegen.«
»Aha«, sagte der Gast. »Ich sehe, mein Freund, du beherrschst dein Fach.«
»Danke sehr, Herr Professor! Ich habe übrigens vergessen: es gibt auch noch die Ersatzkassen. Die nehmen aber eine Sonderstellung ein.«
»Nun muss es ja wohl auch den Arzt geben, meine ich. Was tut also der Arzt, wenn sie den Gebresthaften zu ihm bringen?«
»Sehr richtig! Der Arzt nimmt zunächst einmal den Krankenschein entgegen, den die Kasse ausgestellt hat. Das ist für ihn sehr wichtig; denn den Krankenschein braucht er ja für die Abrechnung mit der Kassenärztlichen Vereinigung, weil ja doch die Kassen erst einmal Pauschalbeträge an die KV's bezahlen und die dann erst nach Adgo bzw. Preugo vergüten…«
»Wie?« sagte der Alte. »Ist das alles, was der Arzt tut?«
»Nein. Natürlich nicht! Es kommt ja noch die A.U.-Bescheinigung hinzu. Die braucht der Kranke, weil er sie seinem Betrieb und uns vorlegen muss. Die schreibt der Arzt ebenfalls aus.«
»Ja – aber – mein Freund…«
»Ach, Sie meinen bei Unfällen? In diesem Falle allerdings muss der so genannte Durchgangsarzt eingeschaltet werden. Der entscheidet, ob das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren einzuleiten ist, sofern nicht das Verletzungsartenverfahren stattfindet – beziehungsweise, ob nicht die kassenärztliche Behandlungsweise genügt.«
»Gewiss, mein Geschätzter«, sagte die Erscheinung milde, »aber ich frage eigentlich mehr, welche Dinge dem Arzte zum Forschen und Nachdenken dienen – beruflich verstehst du –, wissenschaftlich sozusagen.«
»Beruflich! Aha – ich weiß schon! Jaaa – da ist natürlich vor allem das Problem der Selbstbeteiligung. Das dient den Ärzten heute sehr eingehend zum Forschen und Nachdenken. Das ist aber ein sehr schwieriges Problem, und unsere Ärzte haben sich in aller wissenschaftlichen Gründlichkeit damit auseinandersetzen müssen.«
»Beim Zeus – ich muss mich wundern…«
»Ja, sehr richtig, Herr Doktor! Sie wollen sagen, dass man auf dem Wege der Krankenscheingebühr dieselben Erfolge hätte. In diesem Sinne laufen ja aber auch die Bestrebungen…«
»Fragen wir doch einmal anders«, sagte der Gast und fuhr sich benommen über die Stirn. »Welche Krankheiten haben denn die Menschen, die zu dir kommen?«
»Ja, das kann ich nicht wissen, Herr Professor – das kann natürlich, wissen Sie – heheh –, das kann sehr verschiedene Ursachen haben. Ich habe hier das Krankenblatt anzulegen. Dann bekommt der Mann seinen Krankenschein, und dann wird er zum Arzt geschickt, oder besser gesagt: wird sie zum Arzt geschickt; denn der Krankenstand der weiblichen Beschäftigten ist ja bekanntlich höher. – Nun ist die Sache eben die – ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen –, wir stehen ja in einer Zeit der Vollbeschäftigung. Das hat seine Auswirkungen. Also, ich will mal sagen: in allen Fällen können wir nicht dahinter kommen. Notfalls schicken wir die Leute zum Vertrauensarzt.«
»Vertrauensarzt! Das ist ein vortreffliches Wort! Ein Arzt muss ein Vertrauensarzt sein! Das habe ich meinen Schülern seinerzeit auch schon gesagt. Kein Durchlaufsarzt, oder wie du da vorhin gesagt hast! Ein Vertrauensarzt!«
Fallmeyer meckerte wehmütig. »Das ist schon richtig, Herr Präsident. Trotzdem, glaube ich, wird man Ihnen nicht so recht zustimmen – wissen Sie. Es sind da viele – na ja – Missverständnisse – sagen wir mal – leider!«
»Aber wie gut, daß wir beim Thema sind!« fuhr der alte Gelehrte fort und strich sich durch den Bart, daß elektrische Funken aufstoben und Fallmeyers Büroeinrichtung magisch beleuchteten. »Du hast doch diesen Papyroskasten vor dir, mein Schönlockiger. Nun sieh doch einmal in diesen und sage mir: wer ist krank?«
Fallmeyer starrte mit weiten Augen vor sich hin. »Tja – man sagt – genau genommen die Krankenkassen selbst!« murmelte er dumpf.
Aber der Alte bemerkte seinen Kummer nicht. »Beim Hunde«, rief er, »du bist nicht leicht zu verstehen. Nun sage mir doch klar heraus: Was tut ihr also, um die Menschen von ihren Leiden zu befreien oder ihre Schmerzen zu lindern? !«
»Ich habe es Ihnen doch schon erklärt, Herr Professor«, sagte Fallmeyer verdrossen. »Ich will es aber auch noch einmal erklären. Also wenn einer zu uns kommt und einen Krankenschein haben will, dann legen wir ein Leistungsblatt an – hier – so eins – sehen Sie! Vorn drauf kommen Name, Mitgliedschaft, Vorerkrankungen – hier! Und hinten drauf kommt das Krankengeld nach der Grundlohnberechnung. So! Und auf Grund dieses Blattes machen wir dann die Auszahlung.«
Der Klassiker wurde ungeduldig. »Bei den Göttern«, rief er, »nun sage mir aber endlich, mein Wissensstarker, wenn jemand hereingebracht wird, der zum Beispiel die Gicht hat – wie heilt ihr diesen?«
Auch Fallmeyer wurde nervös. »Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, wie ich Ihnen die Sache erklären soll, Herr Doktor. Ihre Fragen sind, verzeihen Sie, so sonderbar. Die Gicht? Ja, du liebe Zeit – die Gicht! Gegen die Gicht wissen die Ärzte auch noch nichts Rechtes, soviel ich weiß. Aber es geht bei uns ja auch nicht um die Gicht. Unser Gesundheitswesen steht ja auf einer viel breiteren Basis. Ich meine – wie soll ich es noch –, Herr Professor können sich gern selbst orientieren. Wir haben die nötige Literatur hier im Büro… Besser kann ich es Ihnen auf keinen Fall erklären. Hier – bitte – ist der ganze Fortschritt gewissermaßen auf einem Haufen – sehen Sie – Gesetzblätter – Rundverfügungen – Mitteilungen der Landesverbände – Richtlinien – Teilungsabkommen – Zeitschrift für soziale Zusammenarbeit – Entscheidungssammlung – Blätter für die gesamte Krankenversicherung…«
Als aber Fallmeyer in schneller Folge Bände und Zeitschriftenstöße auf den Schaltertisch fallen ließ, geschah etwas Seltsames. Mit jedem Luftstoß, den die dumpf aufschlagende Literatur verursachte, wurde die bläuliche Erscheinung des Hippokrates mehr und mehr zerweht. Beim Niederfallen der Monatsschrift für kassenärztliches Rechtswesen schließlich war es wieder hell im Raum und von dem verwirrenden Bilde des klassischen Arztes gottlob keine Spur mehr zu entdecken.
Fallmeyer wunderte sich noch etwas. Zwar war ihm so, als habe der Alte im Verschwinden einige kraftvolle Worte auf griechisch geäußert. Diese Worte hatte Fallmeyer jedoch nicht verstanden. Denn den Aristophanes pflegt man auf der höheren Schule nur auszugsweise zu lesen.