von Simon Carmiggelt
Mein Cousin Fritz, ein gerade absolvierter Mediziner, hat sich kürzlich in einem Limburger Dorf niedergelassen, wo er die Praxis eines Greises übernehmen konnte, der sich an den belegten Zungen seiner Gemeinde müde gesehen hatte. Für einen solchen Burschen ist das ein recht großer Übergang.
Aus dem sprudelnden, von der Bürgerschaft lächelnd respektierten Leben eines beliebten Korpsstudenten, der mit viel Krach kein Ereignis versäumte, fiel er plötzlich in den unwirklichen Status eines Landarztes, der in einem einschläfernden Nest wie der Gemischtwarenhändler auf einen Kunden wartet. Als er zwei Tage lang in makellos weißem Kittel seine gut manikürten Daumen gedreht hatte, gab die Praxis das erste Lebenszeichen von sich.
Es erschien nämlich ein schüchternes Mädchen mit einem Zettel, auf dem mühsam geschrieben stand:
»Wollen Sie bitte einmal nach meinem Mann sehen?«
Das Sehen musste, wie es sich herausstellte, auf einem Bauernhof weit außerhalb des Dorfes erfolgen. Er radelte hin und fand einen Mann im Bett vor, der in kompaktem Redeschwall erklärte, dass er sich anders fühle als sonst. Der junge Medikus untersuchte ihn gründlich, aber die einzige Diagnose, die er mit Sicherheit stellen konnte, war, dass der Patient sich nur selten wusch.
»Ich komme morgen wieder«, sagte er ernst.
Und er verließ die Stube.
Als er im Gang seinen Regenmantel anzog, sagte er zur Ehefrau des Kranken, die nach dem Manna seines Wortes lechzte:
»Das kommt in Ordnung. Messen Sie ihn nur …«
Die Person nickte ebenso schüchtern wie ihre Tochter, die das Briefchen gebracht hatte. Damit war der erste Krankenbesuch, den mein Cousin in seiner Karriere gemacht hatte, beendet.
Zu Hause schlug er wieder einmal die Studienbücher auf, folgerte daraus, daß der Mann für etwa acht Krankheiten in Betracht kam und dachte lange nach.
»Ich tappe im dunkeln«, sagte er sich, »aber morgen weiß ich vielleicht mehr.«
Andern mittags radelte er wieder zum Bauernhof. Zu seiner lebhaften Bestürzung traf er seinen ersten Patienten bei der Arbeit im Garten an.
»Es ist schon wieder in Ordnung, Herr Doktor«, sagte der Bauer. »Was Sie gesagt haben, hat geholfen.« '
»Was meinen Sie?« fragte der blutjunge Medizinmann erstaunt.
Die Frau erläuterte es ihm.
»Ich habe ihn gemessen«, sagte sie.
Und sie zeigte ihm wie.
Abends vor dem Schlafengehen hatte sie das Barometer von der Wand genommen und es neben ihrem Mann ins Bett gelegt. Als am anderen Morgen die Nadel auf 'Schönwetter' stand, hatte der Patient begriffen, dass seine Leiden vorüber seien.
»Ich spüre nichts mehr«, sagte er im Garten.
Und mit einem Blick unverhohlener Bewunderung:
»Sie sind viel besser als der Alte.«
So entsteht manchmal der Ruf.
Und nicht nur in der Welt der Medizin…