von Karl Hans Strobl
»Es ist doch jammerschade um das prächtige Tier«, sagte Doktor Linnemann und wackelte bedauernd mit dem Kopf. Der Direktor Van Troop nahm den Panamahut ab und fächelte sich Luft zu: »Ja aber…«, wandte er ein, »es vergeht kein Tag, an dem ich nicht seinetwegen ein halbes Dutzend Briefe erhalte. Vorgestern war der Vorstand des Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit bei mir und hat sich beschwert. Und den Artikel im >Nederlandsch Kurier< haben Sie ja gelesen.«
Direktor Van Troop und sein Assistent Doktor Linnemann standen vor dem Papageikäfig des Rotterdamer Tiergartens, und drinnen saß Joko in seinem gesonderten Abteil und hörte zu. Er schaukelte gelassen in seinem Ring und sah die beiden Männer geneigten Kopfes an. Jetzt blinzelte er, sträubte die Federn und mischte sich ins Gespräch. »Geh weida, du Schwein!« sagte er.
»Da, hören Sie ihn nur«, meinte Van Troop; »Seeleute lieben ja überhaupt eine etwas kräftige Ausdrucksweise, aber was der Kapitän, von dem wir Joko gekauft haben, den lieben langen Tag zusammengeflucht und geschimpft haben mag, das scheint schon wirklich schlimm gewesen zu sein.«
»Es gibt aber eine ganze Menge Leute, die gerade daran Vergnügen finden. Er ist vielleicht der beliebteste Vogel von ganz Europa.«
Joko hatte den Ring verlassen und turnte auf die Sitzstange herüber. Er blinzelte missvergnügt und hob abwechselnd einen Fuß um den andern. »Halt's Maul, du Gauner!« sagte er.
»Also bitte«, stöhnte der Direktor verzweifelt, »hören Sie ihn nur an.«
»Ich bin gar nicht beleidigt«, lachte Linnemann; »von Joko lasse ich mir alles gefallen.«
»Ja Sie… aber die Sittlichkeit? Er erregt Anstoß… er ist ja wirklich ein öffentliches Ärgernis; er muss fort.«
»Rutsch mir 'n Buckel runda«, kreischte Joko, und damit beendete er seinerseits die Unterredung.
Gewiss: er war der schönste Papagei, den man finden konnte, alle Farben des Regenbogens waren auf seinem Gefieder versammelt, und selten hat ein Papagei die menschliche Sprache so vollkommen und deutlich beherrscht. Aber die Bildung, die er von seinem früheren Herrn erhalten hatte, war etwas einseitig. Und wenn man das Gedränge des Publikums vor seinem Käfig sah und die Spannung, mit der seine Kundgebungen erwartet wurden, und das Hallo hörte, das seine kernigen, saftstrotzenden Äußerungen begrüßte, so musste man zugeben, er war wirklich so was wie ein gefiedertes öffentliches Ärgernis. Namentlich für die Jugend, die ihm besonders schwärmerisch anhing, schien er geradezu eine Hoch- und Fachschule des Schimpfens und Fluchens und der Ausgangspunkt einer bedauerlichen Verrohung der Umgangsformen zu sein.
Vom sittlichen Standpunkt war es also vollkommen gerechtfertigt, wenn die Leitung des Rotterdamer Tiergartens in die wichtigsten Blätter die Anzeige einrücken ließ: der Papagei Joko werde in gute Hände preiswert abgegeben.
»Privat kann er ja dann fluchen, so viel er will«, meinte Van Troop.
Aber das hatte er sich nicht vorgestellt, dass nun eine solche Flut von Angeboten über ihn hereinbrechen würde. Jede Post brachte ganze Stöße von Briefen und Bewerbungen um Joko. Es musste um die Schätzung gesitteter Ausdrucksweise arg bestellt sein, wenn ein solcher Rabenbraten wie Joko so viele Freunde und Bewunderer hatte.
»Heute ist das fünfte Hundert überschritten«, ächzte Van Troop; »da, sehen Sie nur, Linnemann, ein Mynheer Swantjekop bietet zweihundert Gulden…«
Miss Edith Forest aber kam sogar persönlich, um ihrer Bewerbung mehr Nachdruck zu verleihen. »Ich bin Inhaberin einer Erziehungsanstalt«, sagte sie; »und muss gestehen, ich liebe meinen Beruf leidenschaftlich. Ich habe die schönsten Erfolge zu verzeichnen, und es ist mir schon in ganz verzweifelten Fällen gelungen, verirrte Seelen auf den rechten Pfad zurückzuführen. Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, Joko das Fluchen und Schimpfen abzugewöhnen. Ich bitte also, mir Joko zu überlassen.« Und sie drückte den goldgeränderten Kneifer fester auf den Nasenrücken und schaute Van Troop mit bannendem Tierbändigerblick an.
Aber Van Troop zuckte bedauernd die Achseln: »Es tut mir sehr leid, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können. Angesichts der überaus lebhaften Nachfrage hat sich die Direktion entschließen müssen, den Vogel nur auf dem Wege einer Versteigerung abzugeben.«
Van Troop war Holländer, also Angehöriger eines überaus geschäftstüchtigen Volkes. Und sobald er gesehen hatte, welch ein Gereiße um Joko war, hatte er rasch beschlossen, die sittliche Forderung zu einem guten kleinen Geschäft für seinen Tiergarten auszugestalten.
Die Versteigerung fand also statt. Der Ausrufungspreis war 50 Gulden. Joko saß auf seiner Stange neben dem Ausrufer und verfolgte den Hergang mit Aufmerksamkeit. Und immer, wenn sich der Hammer des Versteigerers hob, sagte er vergnügt: »Bumms, die Kanone!«
Der Preis stieg sehr rasch. Bei 200 Gulden setzte Mynheer Swantjekop, ein Händler in Kaffee, ein. Er bot 300, er bot 400, und immer bot Miss Edith Forest um einige Gulden mehr. Bei 450 Gulden bog er ab und ließ Miss Forest auf 475 Gulden allein.
Der Hammer fiel.
»Bumms, die Kanone!« sagte Joko hochbefriedigt. Und dann gehörte er Miss Edith Forest.
Ja, nun kam er also in Miss Forests Mädchenpensionat, und sie führte ihn mit einer kleinen Ansprache bei ihren Schülerinnen ein. Das Tier sei das, sagte sie, was der Mensch aus ihm mache. Und sie habe diesen Vogel darum in ihre Anstalt aufgenommen, um zu zeigen, was selbst über das unvernünftige Tier durch die Macht des guten Beispiels –
Joko war natürlich anwesend und tat, als schlafe er.
Aber plötzlich hob er das rechte Augenlid auf, rückte einen Schritt zur Seite und sagte:
»Quatsch nicht, alte Scharteke!«
»Joko, mein guter, lieber Joko«, flötete Miss Edith, »du musst jetzt ein artiges Vögelchen werden.«
»Rutsch mir'n…«, erwiderte Joko.
»Du, du!« unterbrach ihn Miss Edith und drohte ihm milden Ernstes mit dem Zeigefinger. Joko hackte nach dem Finger und fing dann so mörderisch zu kreischen an, dass er hinausgeschafft werden musste. Miss Edith musste ihre Ansprache ohne die Hauptperson beenden.
Am nächsten Morgen begann Jokos Erziehung. Er wurde zum Frühgebet und zum Morgenchoral der Pensionärinnen zugezogen. Und dann trat Miss Edith an seinen Käfig heran und flötete: »Sag schön: Good bye, liebes, gutes Frauchen!«
Joko blinzelte, wechselte den Platz und kehrte dann dem Frauchen den Rücken zu. Es fiel ihm gar nicht ein, Good bye zu sagen. Er sagte auch nicht »Süßes Schätzchen« und »Gottes Segen über dich« und was sonst an zärtlichen oder erbaulichen Dingen von ihm verlangt wurde. Er sprach überhaupt kein Wort; er war stumm, und was er Miss Edith Forest an Gefühlen entgegenbrachte, war ausschließlich stillschweigende Verachtung.
Aber er schien nur in Miss Ediths Gegenwart stumm zu sein, denn wenn sie irgendwo anders weilte, drang oft sein schrilles, ausgelassenes Kreischen durch das ganze Haus. Als er etwa zwei Wochen den Bekehrungsversuchen Miss Ediths getrotzt hatte, ereignete es sich eines Mittags, dass Lilly, einer der widerhaarigsten Fratzen unter Miss Ediths Zöglingen, den Teller Bohnensuppe – es gab diese Woche schon zum dritten Mal Bohnensuppe – zurückschob und sagte: »Selber fressen!«
Miss Edith fiel zunächst in Ohnmacht. Ins Leben zurückgekehrt, stellte sie eine Untersuchung an, obzwar Lillys Äußerung auf drei Meilen nach Joko aussah. Ja, es war Joko, der, was ihm nicht schmeckte, einfach zum Käfig hinausschmiss und sagte: »Selber fressen!«
Miss Edith hielt ihm eine Strafpredigt und verlangte, er solle sagen: »Ich bin ein braver Papagei.« Joko verachtete sie und schwieg.
Am nächsten Tage konnte Knatje ihre Handtasche nicht finden. Sie lief durch alle Räume und brüllte: »Wo ist mein Täschchen? Gottverdammte Schweinewirtschaft!« Diesmal lag Miss Edith eine volle Stunde in Ohnmacht.
Drei Wochen nach Jokos Aufnahme in Miss Forests Erziehungsheim kam Miss Edith zu Van Troop, und der Hausdiener trug ihr in einem verhüllten Käfig Joko nach. »Hier haben Sie Ihren Vogel wieder«, schnaubte sie; »so ein niederträchtiges Rabenviech von Papagei hat die Welt noch nicht gesehen.«
»Ist er bekehrt?« fragte Van Troop.
»Bekehrt? Dieses Biest und bekehrt? Nein! Aber meine Zöglinge schimpfen und fluchen wie eine ganze Kneipe voll betrunkener Matrosen.«
Van Troop schmunzelte; es kam ihm vor, als ob Miss Edith Forest selbst vor drei Wochen Worte wie >niederträchtiges Rabenvieh< und >Biest< wohl kaum in den Mund genommen hätte. Aber dann hörte er zu schmunzeln auf und wurde ernst, denn Miss Forest verlangte ihr Geld zurück und überdies Ersatz für den durch Joko entstandenen moralischen Schaden.
Van Troop war Holländer; er wurde mit Miss Forest fertig und zwang sie, besiegt das Schlachtfeld zu verlassen.
Und dann schrieb er Mynheer Swantjekop, er könne Joko jetzt um 200 Gulden haben. Mynheer Swantjekop kam unverzüglich, nahm Joko in Empfang und setzte seinen Käfig in den Wintergarten seines Hauses.
Da stellte er sich tagtäglich so recht gemütlich vor ihn hin und sagte: »Du blödsinniger Aasgeier!«
»Rutsch mir'n Buggel runda, süßes Schätzchen«, antwortete Joko.
»Ich dreh dir deinen verdammten Kragen um, du Dreckfink!« sagte Mynheer Swantjekop.
»Gottes Segen über dich, du Trotte!!« sagte Joko.
Sie verstanden einander ausgezeichnet und liebten einander unbändig…