Ca. 1993, auf einer Aktionärsversammlung der Pennwalt Corporation, Hersteller von chemischen und pharmazeutischen Produkten in Philadelphia, ein 125 Jahre alten Unternehmen, kommentierte Präsident William P. Drake die Stellung seiner Firma in der heutigen Gesellschaft mit einer eigenen Version des amerikanischen Märchens von der kleinen roten Henne. Das Echo bei den Zuhörern ermunterte ihn dazu, den Text unter der Überschrift "warum wir an das System des freien Wettbewerbs glauben" auch als Image-Anzeige in Wochenzeitschriften zu veröffentlichen:
Es war einmal eine kleine rote Henne, die auf dem Bauernhof scharrte, bis sie einige Weizenkörner fand. Sie rief Ihre Nachbarn und sagte: "Wenn wir diesen Weizen pflanzen, werden wir Brot zu essen haben. Wer will mir helfen, ihn anzubauen?"
"Ich nicht", sagte die Kuh.
"Ich nicht", sagte die Ente.
"Ich nicht", sagte das Schwein.
"Ich nicht", sagte die Gans.
Dann werde ich es tun , sagte die kleine rote Henne. Und sie tat es.
Der Weizen wuchs hoch, reifte und trug goldene Körner. "Wer will mir helfen, den Weizen zu ernten?" fragte die kleine rote Henne.
"Ich nicht" , sagte die Ente.
"Dafür bin ich nicht zuständig", sagte das Schwein.
"Ich würde meinen Status verlieren", sagte die Kuh.
"Ich würde meine Arbeitslosenunterstützung verlieren", sagte die Gans.
"Dann werde ich es tun", sagte die kleine rote Henne, und sie tat es.
Schließlich kam die Zeit, da das Brot gebacken werden sollte. "Wer hilft mir beim Brotbacken?" fragte die kleine rote Henne.
"Das hieße Überstunden für mich", sagte die Kuh.
"Ich würde meine Sozialhilfe verlieren", sagte die Ente.
"Ich habe zwei linke Hände und nie gelernt, wie man das macht", sagte das Schwein.
"Wenn ich die einzige sein soll, die hilft, dann ist das diskriminierend", murrte die Gans.
"Dann mache ich es", sagte die kleine rote Henne. Sie buk fünf Laib Brot und hielt sie hoch, um sie den anderen zu zeigen.
Jetzt wollten alle etwas davon abhaben; sie forderten sogar lauthals ihren Teil. Aber die kleine rote Henne sagte: "Nein, ich kann die fünf Brote ebensogut selbst essen.
"Unmäßiger Profit", brüllte daraufhin die Kuh.
"Kapitalistischer Blutsauger", schrie die Ente.
"Gleiches Recht für alle", forderte die Gans.
Das Schwein grunzte nur. Und sie malten "Unfair" auf Transparente, liefen um die kleine rote Henne herum und riefen Obszönitäten.
Als der Regierungsvertreter kam, sagte er zu der kleinen roten Henne: "Hör mal, du darfst nicht habgierig sein!"
"Aber ich habe mir das Brot doch selbst verdient" , erwiderte die kleine rote Henne.
"Genau", sagte der Regierungsvertreter. "Das ist das wunderbare System des freien Unternehmertums. Jeder auf dem Bauernhof kann soviel verdienen, wie er will. Aber unter unseren modernen Regierungsbestimmungen müssen die produktiv Tätigen ihr Produkt mit denen teilen, die nicht arbeiten."
Und sie lebten danach glücklich und zufrieden, auch die kleine rote Henne.
Aber alle auf dem Hof wunderten sich, warum sie nie wieder Brot gebacken hat."
Anfang 1997 schrieb ein junger deutscher Idealist eine neue Fassung des Märchens, in der die Tiere bereit gewesen wären mitzuarbeiten, aber nicht durften. Leider unterschlug er die arbeitsrechtlichen und tariflichen Randbedingungen Deutschlands. Darum hier eine realistischere Fassung seiner Variante von mir.
Es war einmal eine kleine rote Henne, die auf dem Bauernhof scharrte, bis sie einige Weizenkörner fand. Sie rief Ihre Nachbarn und sagte: "Wenn wir diesen Weizen pflanzen, werden wir Brot zu essen haben. Wer will mir helfen, ihn anzubauen?"
"Ich!", rief die Kuh.
"Ich!", rief die Ente.
"Ich!", rief das Schwein.
"Ich!", rief die Gans.
Und sie schickten ihre Gewerkschaftsvertreter, die zur kleinen roten Henne sagten:
"Mein Mitglied ist bereit, ein Viertel der Arbeit zu übernehmen, und dafür muß es ein Viertel des Brots bekommen. Aber die Werkzeuge, den Dünger, die Pacht für das Feld usw. mußt du ganz allein tragen, egal wieviel es kostet. Und wenn die Witterung schlecht ist, so dass der Weizen nicht wächst, dann mußt du meinem Mitglied ebensoviel Brot geben, wie wenn du Erfolg gehabt hättest. Und in den kommenden Jahren mußt du ihm weiter soviel Brot geben, egal ob du die Möglichkeit hast, auch dann noch Weizen zu pflanzen."
Und die Kuh, die Ente, das Schwein und die Gans wunderten sich, dass die Henne keinen von ihnen einstellte. Und sie malten "Unfair" auf Transparente, liefen um die kleine rote Henne herum und riefen Obszönitäten.
Als der Regierungsvertreter kam, sagte er zu der kleinen roten Henne: "Hör mal, du darfst nicht unsozial sein!"
"Aber man will selbst dann Brot von mir, wenn mein Unternehmen keinen Erfolg hat", erwiderte die kleine rote Henne.
"Genau", sagte der Regierungsvertreter. "Das ist das wunderbare System des freien Unternehmertums. Jeder auf dem Bauernhof kann soviel Arbeitsplätze schaffen, wie er will. Aber unter unseren modernen Regierungsbestimmungen müssen die Unternehmer den Arbeitern das höchste irgendwann mögliche Einkommen garantieren, und das Risiko ganz alleine tragen."
Und alle auf dem Hof wunderten sich, warum die Henne wegzog und ihren Weizen woanders pflanzte.