Im Zuschauerraum wurde es dunkel, der Vorhang ging auf – und was sich nun eine paradiesische halbe Stunde lang ereignete, war...
von Bernard Levin
Jeden Oktober bietet das Städtchen Wexford im Südosten Irlands ein dreitägiges originelles Opernfestival. Die Gemeinderäte sind sich darüber klar, dass sie weder mit dem Staraufgebot besser dotierter, bekannterer Festspiele mithalten können, noch deren Repertoire anstreben sollten. Es werden deshalb junge, am Anfang ihrer Karriere stehende Sänger und Sängerinnen verpflichtet und selten gespielte Opern gebracht.
Über die Abschlussaufführung im Jahr 1979 spricht man heute noch. Gegeben wurde Spontinis Oper La Vestale. Sie handelt von der vestalischen Jungfrau Julia, die um der Liebe willen gegen ein Gebot ihres priesterlichen Amtes verstößt.
Das Bühnenbild des ersten Akts bestand aus einer Plattform, die hinten rund 30 Zentimeter höher war als vorn. Dieses plan zur Rampe abfallende Podest stellte den Innenraum des Tempels dar und musste folglich wie Marmor Aussehen. Dem Bühnenbildner gelang ein optisch überzeugender Effekt durch entsprechendes Lasieren der Fläche. Nur war sie jetzt spiegelglatt und kaum begehbar, aber das ließ sich, so dachte man, leicht beheben. Man brauchte nur ein wohlbekanntes alkoholfreies Getränk darauf zu verteilen, und das klebrige Zeug würde den Akteuren genügend Bodenhaftung geben, um unfreiwillige Stürze zu vermeiden.
Nun teilt sich die Geschichte in zwei Versionen auf. Die eine besagt, man habe das wohlbekannte alkoholfreie Getränk nicht auftreiben können und statt dessen ein weniger populäres und minder klebriges verwendet. Die andere folgt dem Gerücht, der Theaterputzfrau sei am Nachmittag zu ihrem Entsetzen aufgefallen, dass irgend jemand über die ganze Bühne etwas verschüttet hatte. Die Brave habe ihren Berufsstolz dareingesetzt und alles gründlich geschrubbt und poliert.
Von da an vereinen sich die beiden Versionen wieder, denn abgesehendavon, dass die zweite sehr viel reizvoller ist, macht es keinen Unterschied, welche Erklärung wirklich zutrifft.
Der springende Punkt ist, wie es weiterging.
Am Abend öffnete sich der Vorhang und gab den Blick frei auf den Helden, der in wehmütige Gedanken versunken vorn auf der Bühne stand. Er tat einen Schritt – und fiel der Länge nach auf den Rücken. Mitfühlendes Gemurmel im Publikum. Der Held hatte sichtlich Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Da er durch den Sturz zu nahe an die Rampe geraten war, versuchte er die schräge Ebene hinauf zu gehen. Während des ganzen Vorfalls sang er natürlich eisern seine Partie, denn es wurde ordnungsgemäß weitermusiziert. Doch mit jedem Schritt voran glitt er einen Schritt zurück. Er gab eine vollendete Darstellung jenes Auf-der-Stelle-Tretens, das in der Pantomime verwendet und von Marcel Marceau so fabelhaft gemeistert wird.
Der tapfer singende Held entschied sich klugerweise dafür, dort zu bleiben, wo er war. Er verließ sich ganz darauf, dass seine Mitspieler ihn bemerken und ihre Bewegungen der Situation anpassen würden. Das geschah denn auch sehr bald. Als nämlich der vertraute Freund des Helden seinen Kollegen im Bühnenvordergrund stehen sah, beschloss er, sich zu ihm zu gesellen. Er hatte ohnehin keine andere Wahl. Denn kaum hatte er die Bühne betreten, geriet er ins Rutschen und landete wild gestikulierend an der Brust des Helden.
Ganz unpassend war das nicht, haben sich die zwei doch laut Libretto in dem Augenblick mit herzlicher Umarmung zu begrüßen. Allerdings verlangte die Handlung nicht, dass er den Anderen wie ein Schraubstock festhielt und beide, vom Schwung des abrutschenden Freundes fortgerissen, direkt auf den Orchestergraben zuschlingerten.
Erst am äußersten Rand der Katastrophe konnten sie ihre gemeinsame Talfahrt stoppen. Wie Bergsteiger, die eine unbezwingbare Gletscherspalte umgehen müssen, arbeiteten sie sich an der Rampe entlang vor und wagten dann die Erklimmung des Abhangs. Die einzige Erhebung auf der spiegelglatten Schräge bildete ein kleiner Altar, auf dem das heilige Feuer brannte. Er war fest im Bühnenboden verankert, und offensichtlich versuchten die beiden ihn zu erreichen. Er würde ihnen Halt und damit eine sichere Position für die weiteren Szenen geben.
Kurz nachdem der Held und sein Freund das ersehnte Ziel erreicht hatten, trat der Chor auf – und bot sogleich eine sehr frei choreographierte Darbietung des Balletts Die Schlittschuhläufer, wenn auch zur falschen Musik.
Priesterin Julia, von starkem Lebenswillen beseelt, schlitterte zur Seitenkulisse und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Anscheinend brachte das nicht viel, denn sie entledigte sich auch noch der Strumpfhose.
Inzwischen hatten die Zuschauer (das Theater bot 440 Plätze und war voll besetzt) vor Lachen schon Leibschmerzen, und einige fürchteten sogar, sie könnten schwere innere Schäden davontragen.
Die ganze Zeit wurde ununterbrochen gesungen. Schließlich gelangte auch der Chor zu der Erkenntnis, dass man auf der Bühne nur an einer einzigen Stelle aufrecht stehen konnte – oben mit der Hand am heiligen Altar. Es gab aber bloß diesen einen Altar, und der war zudem recht klein. Als nun die Künstler zu der winzigen, Rettung verheißenden Opferstätte hindrängten, hielten sich die vordersten am Altar selbst fest, während die nächsten sich an die ersten klammerten und die übernächsten an die vor ihnen und so weiter und so fort, bis sich eine Menschenkette über die Bühne schlängelte, in der alle wie die Kletten aneinander hingen.
Das Publikum war mittlerweile völlig hysterisch geworden. Viele Zuschauer wanden sich unter Tränen, von schmerzhaften Lachkrämpfen geschüttelt.
Am Schluss des ersten Akts tobte ein Beifallsorkan, wie ich ihn noch nie in einem Opernhaus erlebt hatte und höchstwahrscheinlich, auch nie wieder erleben werde. In der Pause wurde die Bühne ausgiebig mit dem klebrigen alkoholfreien Getränk behandelt, und damit endete der für uns so komische erste Teil des Abends.
Doch nur ganz Unersättliche hätten nach so viel Zwerchfellerschütterungen noch nach mehr verlangen können. Die meisten von uns waren restlos zufrieden damit, dass wir immerhin eine bühnenhonigsüße halbe Stunde lang im siebenten Himmel der Heiterkeit hatten weilen dürfen.