In einem orientalischen Reiche sprach eines Tages der Großwesir betrübt zu seinem Herrn: "Großmächtigster Sultan, ich lasse mir den Kopf abhacken, wenn sich in deinen Staatskassen auch nur noch eine einzige Zechine befindet."
Der Kalif, schäumend vor Wut, stieß seinem obersten Diener die Pantoffel in den Bauch, dass der hohe Würdenträger auf die Polster kullerte und den Turban verlor. In grimmem Zorn rief der erhabene Großherr aller Gläubigen: "Schaff mir Gold, Missgeburt einer Eselin, woher es auch sei! Habe ich für volle Kassen zu sorgen oder du? Bin ich Großwesir oder du? Sollen meine Lieblingsfrauen darben, auf Geschmeide und Seiden verzichten, weil du unfähig bist, Geld zu beschaffen? Soll ich ärmer als mein Türhüter leben? Großwesir, ich gebe dir einen Tag und eine Nacht Bedenkzeit, ein Mittel zu finden, auf dass meine Truhen von Gold strotzen. Gelingt es dir nicht, so wartet deiner die seidene Schnur!"
Da warf sich der Wesir seinem Herrn zu Füßen und jammerte: "Durchlauchtigster Herrscher aller Herrscher, großer Sultan aller Gläubigen, Allah möge deine Feinde verderben! Das Volk schmachtet unter deinen Steuern: es isst kein Körnchen Salz, keinen Bissen Brot, ja, es trinkt keinen Schluck Wasser, auf dem nicht eine Abgabe für die Kalifatskasse ruhte. Siehe, du Zierde des Menschengeschlechts, dein Volk ist arm geworden unter deiner harten Hand. Keiner deiner Untertanen freut sich mehr über ein Erbe, denn du forderst es ein; keiner will mehr reich werden, denn unbarmherzig entreißen ihm die Steuerboten das in Mühsal Errungene. Das Volk stöhnt unter deinen Steuern, O Herr, und ist seines Lebens nimmer froh. Allah segne dich, O Herr – gib mir die Schnur! Keine neue Steuer vermag das Gehirn deines untertänigsten Knechtes mehr zu ersinnen. Hast du nicht sogar das Amt eines Eunuchen besteuert? Herr, der Tag wird kommen, da deine Frauen und Sklavinnen ohne Goldketten gehen. Herr, gib mir die Schnur!"
Der Kalif hatte finster zugehört, jetzt zuckte es tückisch in seinen Augen auf. Denn er gedachte, Hab und Gut des Wesirs einzuziehen, wenn er sterben müsste; aber er wußte auch, dass kein schlauerer Mann im Reich war, der mit verschlagener List immer wieder aus den schwierigsten Lagen geholfen, immer wieder neue Geldquellen zum Sprudeln gebracht hatte. Und also sprach er: "Salim-Pascha, dein Leben ist verwirkt, findest du keine neue Steuer. Ich habe gesprochen und du weißt, dass ich mein Wort halte. Strenge dein Greisengehirn an oder ..." Und mit bösem Lachen schlug er den Vorhang zur Seite und verschwand dahinter, wo Flötenspiel und Mädchenlachen erklang.
Salim-Pascha, der Großwesir, saß auf seinem Teppich, rauchte die Wasserpfeife und trank duftenden Kaffee, indes sein Geist vergebens nach einem Ausweg suchte. Unwillkürlich griff er sich mitunter an den Hals, als schnüre ihm schon der Seidenfaden den Atem ab.
Da, bei der sechsten Pfeife und der elften Tasse Mokka, schnellte er plötzlich unmuselmännisch erregt auf und rief: "Ich hab's, ich hab's!"
Dann ging er lächelnd in seinen Harem, denn wallte ihm auch weiß der Bart, so hing sein Herz doch an den schönen Dingen dieser Welt, gelobt sei Allah!
Am nächsten Tage trat der Wesir frohen Antlitzes vor seinen Herrn. Der sah ihn aufmerksam an, lächelte befriedigt und warf eine blauseidene Schnur, die auf einem Taburett lag, in den Winkel. Einmal würde der Alte ja doch sterben dieses Erbe ging ihm nicht verloren.
Und also hub Salim-Pascha an: "Großmächtigster Herr und Kalif, ich habe ein Mittel gefunden, Allah sei gepriesen, auf dass deine Kassen überlaufen werden. Herr, lügnerisch hat Allah die Menschen geschaffen, ihm sei Ehre und Ruhm! Lautere Wahrheit klingt selten an dein Ohr, von zehn Worten sind neun Lüge. Ich werde nun eine Lügensteuer ausschreiben: ein Heer von Sklaven, geheimen Dienern deines und meines Willens, wird die Gespräche deiner Untertanen belauschen, wird ihnen nachgehen und sie prüfen, wird jede Unwahrheit nach dem Vermögen des Lügners bestrafen. Herr, deine Weiber und Sklavinnen werden in Gold und Seide ersticken, Allah sei gelobt."
Da umarmte der Sultan seinen Wesir strahlenden Antlitzes und rief: "Salim, du Zierde der Weisheit, das hast du wahrlich klug ersonnen! Ich bin dir sehr gnädig. Wünsche dir von mir, was du willst, es sei dein!"
Da gedachte der Wesir ähnlicher Fälle, da er Geld und Gut begehrt, das dann sogleich den Steuerdienern wieder zur Beute gefallen. Und er sprach, bittern Groll unterdrückend – denn er war ein habgieriger und geiziger Mann, der von jeder Steuer einen Teil für sich unterschlug – : "O Herr, ich begehre keinen andern Dank, als deinen Augen zu gefallen. Deine Gunst, deine Gnade ist mir das erhabenste Geschenk, das sich mein Herz ersinnen mag."
Da blitzte es böse und lustig zugleich in den Augen des Kalifen auf, der seinen Wesir durchschaute, und er rief: "Salim, auf Grund deiner neuen Steuer verurteile ich dich – ich weiß, du bist ein reicher Mann und hast heimlich Schätze vergraben – zu zehn Goldzechinen, denn du hast eben gelogen!"
Erschrocken wehrte sich Salim gegen solche Anschuldigung und Buße, aber als er schwur: so und nicht anders denke er, steigerte der Sultan die Strafe um weitere zehn Zechinen, so dass Salim seufzend zahlte und mit betrübtem Herzen den Palast verließ.
Der Sultan aber lebt seit diesem Tage, dank der Schlauheit seines Wesirs, in Hülle und Fülle, und seine Kassen werden überhaupt nicht mehr leer. Denn Allah hat die Menschen lügnerisch erschaffen, ihm sei Ruhm und Ehre!