Von Max Florentin
Im Zugabteil saß eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter. Auf einer Station stieg ein elegant gekleideter Herr zu. Er grüßte, legte seinen Mantel ab, zog eine Zeitung aus der Innentasche desselben und machte es sich gegenüber von Mutter und Tochter bequem. Sodann fingerte er aus seiner Westentasche ein Monokel, das an einem Goldkettchen hing. Er klemmte es sich ins Auge, schlug die Zeitung auf und begann zu lesen.
Das kleine Mädchen hatte alles sehr aufmerksam beobachtet. Jetzt stupste es die Mutter an und fragte: "Mutti, was ist das für ein Ding, das der Mann vor dem Auge hat?"
Der jungen Frau war es etwas peinlich, und auch der neue Fahrgast hob tadelnd die Augen. "Höre, Luise", sagte die Mama rasch, "du hast dich nicht sehr fein ausgedrückt. Das ist nämlich kein Mann, sondern das ist ein Herr!" Der Herr von gegenüber warf der Mutter einen anerkennenden Blick zu und fuhr in seiner Lektüre fort.
Luise fragte: "Also gut, Mutti – was hat der Herr sich da vor das Auge geklemmt?" – "Das ist ein Monokel, Kind! Nun frag aber nicht weiter, sondern sieh aus dem Fenster und betrachte die schöne Landschaft!"
Luise betrachtete. Aber nur einen Augenblick. Dann stupste sie die Mutter wieder an und wollte wissen: "Warum hat der Herr ein Monokel, warum hast du keins?" Der neue Fahrgast verzog ein wenig spöttisch die Mundwinkel, ohne sich jedoch in seiner Lektüre stören zu lassen. Die Mutter aber beugte sich zu ihrer Tochter und flüsterte ihr eindringlich etwas ins Ohr.
Das schien gewirkt zu haben. Nun sah Luise volle zehn Minuten aus dem Fenster, ohne sich zu rühren. Dann aber hielt sie es nicht mehr aus, stupste die Mutter erneut an und fragte:
"Und was ist ein Fatzke ...?"