Eine Weihnachtsgeschichte
In der Schule riefen sie einfach "Muli", obwohl sie eigentlich Margot hieß. Sie hörte es ganz gern. Es klang ein wenig zärtlich, fast wie ein Kosename. In der Klasse fiel sie nicht besonders auf. Sie gehörte dazu, so wie sie war, mit ihren schwarzen Augen, der dunkel getönten Haut und dem dichten schwarzen Haar. Muli hatte herrliche weiße Zähne, und wenn sie lachte, lachten alle mit – und sie lachte gern. Sie konnte lustig sein, auch frech. Sie konnte es genießen, anders zu sein als die andern und aufzufallen, wohin sie immer kam. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass sich viele Augenpaare auf sie richteten, wenn sie irgendwo zum ersten Mal hinkam. Es machte ihr nichts aus, dass sie ihren Vater nicht kannte. Nur manchmal, wenn es dunkel war, dachte sie, wie es wäre, wenn er da wäre und sie beschützte, wie andere Väter ihre Kinder beschützen. Einmal hatte sie sich das Bild eines Schwarzen aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und an die Wand gehängt, gerade über ihr Bett. "Du bist mein Vater", sagte sie zu dem Mann auf dem Bild, "mein schwarzer Vater". Ihre Mutter sprach nicht viel darüber. Sie sagte eigentlich nur einen Satz: "Wir haben uns geliebt". Und dann nahm sie Muli in den Arm und küsste sie, so als wollte sie sagen: "Wie schön, dass du aus dieser Liebe hervorgegangen bist." Muli liebte ihre Mutter und fand, dass das alles so in Ordnung sei, und dass es gegen die Liebe nichts einzuwenden gibt.
Es kam die Weihnachtszeit heran. Muli gehörte zu den Schülerinnen, die besonders gut aufsagen und vortragen konnten. Eines Tages hieß es: "Wir machen ein Krippenspiel. Wer macht mit?" Eine ganze Schar meldete sich, darunter Muli. Nun wurde eingeteilt: Hirten, Könige, Engel, Wirtsleute und wer noch so in einem Krippenspiel vorkommt. Aber wer sollte Maria spielen? Für diese Rolle gab es viel zu lernen. Es war nämlich keine gewöhnliche Maria, die im blauen Gewand ihr Kindchen wiegte und huldvoll die Geschenke entgegennahm, sondern ihr ganzer Weg war im Spiel geschildert. Sie muss fortgehen aus Nazareth, muss über einen hohen Berg wandern, der viele Hindernisse im Weg hat, schließlich wird sie überfallen und ausgeraubt und kommt als Bettlerin in Bethlehem an. Von Herberge zu Herberge geht sie suchend und bittet um ein Quartier für sich und das Kind, bis sie bei Ochs und Esel in einem Stall um Mitternacht ihr Kind gebären darf.
Muli war von dieser Geschichte so ergriffen, dass sie aufstand und laut sagte: "Ich möchte die Maria spielen." Die Klasse wurde verlegen. Sie zögerten. "Warum gerade du?" fragte eine. Da war noch ein anderes Mädchen, das hatte blonde Haare, blaue Augen in einem kleinen braven Gesicht. Sie hieß Maria. Plötzlich wollten alle, dass Maria die Maria spielen sollte. "Warum darf ich nicht die Maria spielen?" fragte Muli. "Nur dies eine Mal, bitte, lasst mir die Rolle." Schweigen – eine lacht hinter der Hand, schließlich platzt eine heraus: "Du bist eine Mulattin. Dein Vater war ein Neger. Du kannst nicht die Maria spielen. Maria war weiß und schön. Gott hat sie geliebt."
Muli rennt aus der Klasse. Sie möchte schreien, so groß ist der Schmerz, den sie irgendwo in der Tiefe ihres Körpers spürt. Sie rennt und rennt und denkt immer nur, fort, fort. Hinter ihr ruft eine Freundin: "Muli, warte doch". Aber sie läuft nur schneller und begreift, dass 'Muli' kein Kosename, sondern ein Spottname ist. "Mulus", denkt sie, "heißt Maulesel. Ja, das bin ich."
Heimlich lernte Muli zu Hause dennoch die Rolle der Maria und nahm sich vor, am Heiligen Abend die Geschichte dieser Frau, ihren schweren Weg, der Mutter vorzuspielen. Sie übte ihre Rolle wieder und wieder und übte sie, stolz wie eine Königin und demütig wie eine Magd, und noch der erbärmliche Stall, in dem sie als Bettelweib niederkam, wurde vom Glanz dieser Liebe hell.
Es kam der Tag der Aufführung. Ein festlicher Tag. Lehrer, Schüler, Eltern hatten sich versammelt und warteten gespannt auf das Spiel. Muli stand bei ihrer Klasse. Es war in all der Aufregung gar nicht aufgefallen, dass Maria noch nicht da war, bis der Anruf kam. Maria war auf dem Weg mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich ihr Bein gebrochen. Sie war im Krankenhaus.
"Ich kann die Rolle, ich habe sie für meine Mutter gelernt", sagt Muli. Weiter kommt sie nicht. Es ist keine Frage, in diesem Falle, sozusagen stellvertretend, darf Maria dunkel sein. Eine erinnert sich, mal ein Kruzifix gesehen zu haben, an dem ein Neger hing. Christus könnte auch schwarz gewesen sein – und Gott, wer sagt denn, dass er weiß ist? Es gibt auch schwarze Väter. Alle reden durcheinander – und Gott wird immer menschlicher.
Muli aber spielt eine Maria, wie sie die kleine Stadt noch nie gesehen hat. Stark und leidenschaftlich, getragen von dem einen Wunsch, das Kind zur Welt zu bringen, geht sie ihren Weg, erträgt alle Niederlagen und, als das Kind geboren ist, tanzt sie im Stall einen Freudentanz. Muli spielte die Rolle der Maria, die Gott liebte, und zugleich die Rolle ihrer Mutter, die einen Schwarzen liebte und den Mut hatte, das Kind von ihm zur Welt zu bringen.
Eine Stunde lang, solange das Spiel währte, glaubten alle, die zusahen, dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist.