von Ralph Urban
"Ende des dritten Jahrhunderts nach Christi wurde Rom mit einer Mauer umgeben", dozierte Dr. Bahr während der Geschichtsstunde in der IVa-Klasse vom Realgymnasium, "die zum Teil heute noch vorhanden ist – Kommen Sie heraus, Fischbach!"
In der dritten Reihe erhob sich ein schlaksiger Jüngling mit Sommersprossen und trottete zum Katheder.
"Den Zettel möchte ich sehen", sagte der Klassenvorstand, "den man Ihnen soeben zugesteckt hat." "Bitte, Herr Studienrat." Fischbach zog ein Stückchen Papier aus dem Hosensack und reichte es Dr. Bahr, der es glätter und für sich las: "Was ist ein Nokixel?"
"Aha", nickte Dr. Bahr und sah auf. "Und wer ist der Absender dieser Anfrage?" Sein Blick stach in die Klasse.
"Ich, bitte!" Ein gut genährter Junge in der vierten Bankreihe stand auf.
"Natürlich, der Schünemann", tadelte der Klassenvorstand. "Gerade für Sie, Schünemann, wäre alle Veranlassung vorhanden, dem Geschichtsunterricht aufmerksamer zu folgen. Für diesmal wollen wir es dabei bewenden lassen. Setzen Sie sich, Fischbach. Wo war ich stehen geblieben?"
"Bei der Mauer!" brüllte die Klasse, und der Studienrat setzte seinen Vortrag fort. Bald darauf begann die große Pause.
Dr. Bahr ging ins Konferenzzimmer, holte den Großen Duden vom Regal und begann darin zu blättern. Lateinlehrer Pupp sah ihm eine Weile über die Schulter und fragte interessiert: "Wen oder was suchen Sie, Doktor?"
"Ein oder einen Nokixel", antwortete der, "Aber davon steht hier nichts drinnen. Wissen Sie vielleicht, was damit los ist?"
"Nokixel?" wiederholte der Kollege. "Hm. Sicher wieder so ein neuer Fachausdruck. Hallo, Herr Haas! Für technische Fragen sind doch Sie zuständig. Was ist ein Nokixel?"
"Ein Nokixel?" Herr Haas biss nachdenklich in sein Schinkenbrot. Er unterrichtete in Physik und Mathematik. "Nockenwell – nein, die Autoersatzteile kenne ich alle. Vielleicht hat der Nokixel etwas mit einem Atomreaktor zu tun?"
"Oder es ist nur eine zusammengesetzte Abkürzung", mengte sich Herr Leutgeb, Zoologe und Botaniker, ein. "Es gibt tausendundeine Abkürzung für Firmenbezeichnungen, Gesellschaften für politische oder militärische Institutionen."
"Wie kommen Sie denn auf den oder das Nokixel?" rief nun der Direktor dazwischen, nachdem der ganze Lehrkörper schon damit beschäftigt war.
Dr. Bahr gab die nötige Erklärung ab und zeigte jenen Zettel, der von Hand zu Hand ging und Besorgnis hervorrief.
"Man muss der Sache auf den Grund gehen", verkündete schließlich der Direktor. "Ein Nokixel könnte auch die Bezeichnung für einen abwegigen Artikel sein. Es gibt heute eine gewisse Industrie, die da ihre Erzeugnisse – wir verstehen uns doch, meine Herren. Ja, und warum, zum Teufel, warum haben Sie Herr Doktor Bahr, die Sache nicht gleich an Ort und Stelle geklärt?"
"Habe mich schwer gehütet", antwortete der Studienrat gekränkt. "Dann hieße es, unser Ordinarius, der sonst immer das Gras wachsen hört, weiß als einziger unter uns nicht, was ein Nokixel ist. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass es in dieser Minute bereits alle Schüler meiner Klasse wissen."
"Und das mir in meiner Schule!" jammerte der Direktor. "Ich sehe schon jetzt in Abgründe. Es kommt davon, wenn verantwortliche Klassenvorstände aus Angst, sich etwas zu vergeben, den Vogel Strauß spielen. Ich werde die Sache persönlich in die Hand nehmen. Schicken. Sie den Schünemann sofort zu mir, Doktor Bahr." Auf dieses Stichwort hin ertönte die Glocke und verkündete das Ende der Pause.
Wenige Minuten später stand der rundliche Schünemann vor dem Schreibtisch des Gestrengen. "Schünemann", so sagte der Direktor, "Sie haben während der Geschichtsstunde Ihrem Vordermann diesen Zettel zugesteckt. Warum taten Sie das?"
Der Realgymnasiast schluckte zweimal, bevor er gestand: "Weil der Fischbach immer wieder eingenickt war, während der Herr Studienrat von der römischen Mauer erzählte. Zweimal stieß ich ihn ins Kreuz, da er aber gleich weiterpennte, schrieb ich die Frage auf, damit er was zum Nachdenken hatte."
"Aha", unterbrach ihn der Direktor. "Sie selbst wissen also, was ein Nokixel ist?"
"Jawohl, Herr Direktor!"
"Dann raus mit der Sprache, was ist es also?"
"Nachdem so eine Affäre daraus geworden ist, getraue ich es mir nicht mehr zu sagen, Herr Direktor. Es war ja nur Spaß."
"Der Spaß hat sich aufgehört, Schünemann." Die Stimme des Schulleiters klang wie Metall auf Metall. "Was ist ein Nokixel? Etwas Unanständiges, he?"
"Ein Nokixel", Schünemann riss sich zusammen. "Ein Nokixel ist ein Lexikon, wenn man es verkehrt liest."
"Lexikon!" sprach der Direktor leise vor sich hin. "Nokixel! Wenn Sie bestehen wollen, Schünemann, dann müssen Sie sich eine ernstere Lebensauffassung zu eigen machen. Ab!"