von Hans Weigel
Mein armer Freund und Kollege Harry ist seit gestern geistig umnachtet, wie man so schön sagt. An seinem Aufkommen wird gezweifelt, heißt es. Und ich kann fast sagen, ich sei dabei gewesen. Denn wir sprachen tags vorher ganz harmlos über das Verrücktwerden. Und er meinte, er wüsste die sicherste Methode, um Menschen verrückt zu machen. Es müssen ja nicht wirkliche Menschen sein, meinte er, aber man könnte doch als Schriftsteller in die Lage kommen, eine Figur eines Stücks oder einer Erzählung in geistige Umnachtung zu stürzen. Er wisse, meinte er, einige unfehlbare Methoden, äußerlich ganz harmlose Methoden, die keine Spuren hinterlassen wie Gifte, Dolche oder Schusswaffen, Methoden, die lediglich darin bestehen, dass man den betreffenden Kandidaten veranlasst, gewisse Gedanken radikal zu Ende zu denken. Und er versprach mir, diese Methoden in Form eines kleinen Artikels auszuarbeiten.
Als sie ihn dann am nächsten Tag holten, fanden sie auf seinem Schreibtisch diesen Artikel. Überschrift: "Die sicherste Methode." Und der Artikel sah folgendermaßen aus:
"Da wäre zunächst einmal die Sache mit der Spionage. Jeder von uns kennt diese interessante Betätigung zumindest aus Kriminalromanen und Filmen. Ein Spion ist, kurz gesagt, ein Mann, der im Dienst des Staates A steht, aber den Staat B darüber informiert, was er im Dienst des Staates A erfährt. Er treibt ein Doppelspiel. Aber es gibt, wie wir gleichfalls wissen, auch raffinierte Spione, die sich mit diesem Doppelspiel nicht begnügen, sondern ein Tripelspiel treiben. Sie stehen im Dienst des Staates A, sie informieren den Staat B darüber, was sie im Staat A erfahren; aber, damit nicht genug, sie sagen auch noch dem Staat A, in dessen Dienst sie stehen, dass sie den Staat B informieren, denn sie sind in Wahrheit dem Staat A treu ergeben und lassen daher im Einvernehmen mit dem Staat A dem Staat B falsche Informationen zukommen, hinterbringen hingegen dem Staat A getreulich alles, was sie vom Staat B erfahren. Wenn ein Spion aber kein Tripelspiel, sondern ein Quadrupelspiel betreibt, steht er im Dienst des Staats A, arbeitet angeblich für den Staat B, hält aber eigentlich doch zum Staat A, aber nicht wirklich, sondern nur scheinbar, und hinterbringt alles dem Staat B und erklärt ihm, dass er im Grund seiner Seele, dem Staat B ergeben sei, so dass er die Informationen, die er vom Staat A bekommt, dem Staat B weiterleitet, aber mit dem Bemerken, dass es sich um falsche Informationen handle, während die angeblich richtigen Informationen, die er vom Staat B an den Staat weiterleitet… Hier und keinen Augenblick später empfiehlt es sich, Schluss zu machen, wenn man nicht selbst ein Opfer dieser Methode werden will.
Eine andere Methode kann man beim Friseur studieren, wenn sich an beiden Längswänden seines Ladens große Spiegel befinden. Man sieht in einen dieser Spiegel, sieht sich selbst, gleichzeitig aber hinter dem eigenen Spiegelbild den gegenüberliegenden Spiegel, in diesem Spiegel aber sieht man wieder sich selbst und noch dazu das eigene Bild im ersten Spiegel, in diesem Spiegelbild des Spiegelbilds aber sieht man das Spiegelbild des Spiegelbilds des Spiegelbilds, und wenn man nicht spätestens in diesem Stadium – wieder vor dem Übergang vom Dreifachen zum Vierfachen – die Augen schließt oder nach einer Zeitung greift, sondern weiter in den Spiegel starrt, immer tiefer in die Unendlichkeit hinein, kann man vielleicht einer weltbewegenden philosophischen Erkenntnis auf die Spur kommen, wird aber nicht mehr Gelegenheit haben, sie auszusprechen, denn zuvor wird man der Methode rettungslos zum Opfer gefallen sein.
Ähnlich ist' s auch mit den gewissen Keksen. Man kennt die Kartons, auf denen ein süßes kleines blondes Mädchen abgebildet ist, das voll Entzücken einen Karton mit Keks betrachtet, auf welchem natürlich gleichfalls wieder ein süßes, kleines blondes Mädchen abgebildet ist, das voll Entzücken einen Karton mit Keks betrachtet, auf welchem natürlich gleichfalls ein süßes kleines blondes Mädchen abgebildet ist, das voll Entzücken… Und man stelle sich bitte vor, man sei ein Maler und müsse auf einer großen Wand ein überlebensgroßes Plakat für diese Kekse malen und man denke nach, wie man das anzupacken, wie viele süße kleine blonde Mädchen man da zu malen und womit man anzufangen habe, mit dem Karton oder mit dem Mädchen – das heißt; man denke besser nicht nach, denn täte man's, wäre man bereits reif zur Internierung in einer Anstalt, ehe man die letzte und dämonischste Methode kennen gelernt hat, die am sichersten zum Ziel führt.
Ich pflegte in Cafes und anderen Gaststätten alle Tassen immer so zum Mund zu führen, dass ich den Henkel in der linken Hand hielt, und zwar aus folgendem Grund: Die Tassen werden nicht immer sorgfältig gereinigt. Ansteckende Krankheiten können auf diesem Weg leicht übertragen werden. Auch ekelt es mich, eine Stelle mit dem Mund zu berühren, die kurz vor mir ein anderer, vielleicht nicht sehr appetitlicher Gast mit dem Mund berührt hat. Dies tat ich so lange, bis mir ein Kellner sagte, dass fast alle Gäste die Tasse so halten wie ich, weil es sich allgemein herumgesprochen habe, dass dies appetitlicher und weniger riskant sei. – Ich riskiere also eigentlich weniger, wenn ich die Tasse mit der rechten Hand am Henkel zum Mund führe, dachte ich und handelte dementsprechend, bis mir heute Morgen einfiel, dass der Kellner dies ja wahrscheinlich nicht nur mir gesagt haben dürfte, sondern vielen Leuten. Und wenn sich nun diese Erkenntnis herumspricht, werden die meisten Leute, zumindest in meinem Stammlokal, die Tasse mit der rechten Hand am Henkel zum Mund führen wie ich, also muss ich, um Unappetitlichkeit und Ansteckung zu vermeiden, die Tasse doch wieder mit der linken Hand zum Munde führen; andererseits ist aber wieder zu erwarten, dass viele Leute den gleichen Gedanken haben werden wie ich, denn in meinem Stammlokal verkehren sehr intelligente Leute, und wenn sie meinen, dass alle Leute die Tasse mit der linken Hand zum Mund führen, werden sie daraufhin die Tasse mit der rechten Hand zum Mund führen, weshalb ich sie dann mit der linken Hand zum Mund führen müsste, wogegen aber spricht, dass auch die Leute bei einigem Nachdenken drauf kommen werden, dass es, wenn alle Leute die Tasse mit der rechten Hand zum Mund führen, empfehlenswerter wäre, sie mit der linken Hand zum Mund zu führen, woraufhin ich dann eigentlich wieder die Tasse mit der rechten Hand zum Mund führen müsste, wogegen aber spricht, dass die meisten Leute…"
Hier endete das Manuskript, das man auf Harrys Schreibtisch fand, als man ihn holte. – An seinem Aufkommen wird, wie gesagt, gezweifelt.