Originaltitel: "Text und Glosse", Autor unbekannt
Ein reicher Müller ließ seinen Jungen die Rechte studieren.
Als der Student nun nach einiger Zeit in die Ferien kam, fragte ihn der Vater, ob er denn für den schönen Batzen, den sein Studium koste, schon was Gutes gelernt habe. "Zeige mir mal", sagte er, "deine Bücher!"
Da gab ihm der Sohn den dicksten Wälzer, den er besaß. Er nannte ihn den Codex oder das Gesetzbuch. Der Band war, wenn man ihn aufschlug, auf der Innenhälfte der einzelnen Seiten mit großer und fetter Schrift gedruckt; am Rand aber, "ad marginem", wie der Student vornehm erläuterte – mit kleiner und dünner.
Der Müller erkundigte sich, was es damit auf sich. hätte.
"Je nun", erwiderte der Sohn, "in der Mitte steht der Text. Die feine Schrift daneben, das ist die Glosse."
"Soso", versetzte der Vater. "Text und Glosse. Aber ich spreche kein Latein. Sag mir auf deutsch, was das bedeutet!"
"Der Text", erklärte der Student, "ist das Gesetz, das sich die Völker geben, damit Recht danach gesprochen wird. Was nun aber die Rechtsgelehrten dazu gedacht und wie sie den Text ausgelegt haben, das nennt man die Glosse."
Der Müller schwieg, obwohl ihm die Auskunft nicht sonderlich behagte. Während sich sein Sohn dann zum Pfarrer begab, der ihm beim Mittagstisch auf den Zahn fühlen sollte, nahm er das dicke Gesetzbuch nochmals vor. Er zeichnete in der Mitte nach der Rötelschnur einen Strich und hieb dann mit dem Zimmermannsbeil die Glosse am Rand so genau ab, dass nur noch der Text stehen blieb.
"Was soll denn das, Vater?" rief der Student, als er nach seiner Rückkehr den Band erblickte. "Ihr habt mir ja mein teuerstes Buch verschandelt!"
"Keineswegs!" antwortete der Alte. "Ich habe die Lügen weggehauen und nur das übrig gelassen, was an Wahrheit und Recht schon in den alten Zeiten unter freiem Himmel oder unter der Gerichtslinde galt. Sieh zu, dass du später als Richter oder Anwalt davon lebst, dann hast du was Rechtes gelernt, und es soll mir um mein Geld nicht leid tun. Wenn du aber Auslegungen gebrauchst, um dein Brot zu verdienen, so ist das für mich nicht anders, als wenn du Listen und Ränke dazu nötig hättest, und in diesem Fall wäre es besser, die Juristerei zu begraben und dich mit deiner Hände Arbeit in meiner Mühle zu ernähren. Heute, mein Junge, ist die Welt auf allen Feldern voller Glossen, die den Text überwuchern, und dagegen, mein' ich, sollte man was unternehmen..."
So sprach der alte Müller und ließ keinen Widerspruch mehr aufkommen.