Triumph der Wahrheit

von Wendelin Überzwerch

"Ehrlich müssen wir wieder werden, ehrlich gegen uns selbst und den Nächsten", predigte der Wanderapostel. "Wir modernen Menschen sind so in den Fallstricken der Unwahrhaftigkeit verfangen, dass wir es kaum mehr merken. Verehrte Zuhörer: versucht es doch nur einmal ernstlich, versucht es probeweise nur einige Tage, in allem Denken und Tun ganz wahrhaftig zu sein – und ihr werdet das Glück verspüren, das im Triumph der Wahrheit liegt. Ihr werdet ihr selbst, ihr werdet Persönlichkeit werden!"

Donnerwetter! dachte ich. Der Mann hat Recht. Man ist der Sklave aller möglichen dummen Konventionen, man katzbuckelt vor irgendwelchen taktischen Erwägungen. Man ist feige. Schluss damit. Auf der Stelle beginne ich ein neues Leben der unbedingten Ehrlichkeit. Ich will eine Persönlichkeit werden. Höchstes Glück der Erdenkinder…!

Als ich von dem Vortrag nach Hause ging, in den mich irgendein Zufall verschlagen hatte, begegnete ich Meyer. "Schön, dass ich Sie treffe", sagte Meyer, "wir wollten Sie schon lange mal einladen. Sind Sie morgen Abend frei?"

Meyers sind unausstehliche Leute. Ich drücke mich um alle Einladungen. Im "alten leben" hätte ich nun gesagt: "Schönen Dank, entschuldigen Sie vielmals, aber ich bin morgen abend schon anderweitig besetzt." Aber nein – die kleinen Lügen zeugen die großen. Ich gab mir also einen seelischen Ruck und antwortete: "Frei wäre ich schon, aber ich habe keine Lust."

Meyer guckte mich betreten an: "Aber warum denn nicht?" Ich: "Warum soll ich einen Abend mit langweiligen und blödsinnigen Gesprächen totschlagen. Zudem ist Ihre Frau eine dumme Pute und Ihre Tochter eine verdrehte Schraube." Meyer erbleichte und stotterte: "Was fällt Ihnen ein, meine Familie und mich zu beleidigen. Ich werde Sie verklagen." – "Sie sind ein Idiot", erwiderte ich.

Ach, wie stolz war ich, wider den Stachel der Konventionen gelöckt zu haben! Ich verspürte geradezu, wie die "Persönlichkeit" in mir zu wachsen begann. übrigens können Sie fragen, wen Sie wollen: Meyers sind tatsächlich eine unausstehliche Sippe.

Ich wurde in drei Instanzen zu hundert Mark Geldstrafe wegen Beleidigung verurteilt.

Ich wäre auch mit Wollust ins Zuchthaus gegangen. Ich war Keimzelle einer neuen, besseren Menschheit.

"Was halten Sie von diesem Entwurf?" fragte mich mein Chef und übergab mir ein Papier. Ich las aufmerksam. Es war der Entwurf für ein Werberundschreiben und trug unverkennbar die Schriftzüge des Chefs.

"Wundervoll" – hätte ich früher gesagt. Jetzt aber: "Ich finde den Stil bemerkenswert schlecht, den Inhalt irreführend. Es ist nicht viel besser als ein Betrug am Kunden."

Der Prinzipal schaute mich groß an, und langsam tropfte es von seinen verkniffenen Lippen (diesen Ausdruck entnehme ich einem Schundroman!): "Sie können sich am Ersten Ihre Papiere geben lassen."

Ich war glücklich, für meine Überzeugung zu leiden. Oh, es gibt eine Ekstase des Martyriums, von der der gewöhnliche Mensch keine Ahnung hat.

Meine Braut fragte: "Fritz, liebst du mich auch?" Ich antwortete: "Darüber habe ich auch schon oft nachgegrübelt, liebe Emma. Ich weiß es noch nicht recht, ob es die große Liebe ist. Du hast keine schöne Figur, dein Gesicht ist alltäglich, Geist hast du auch nicht viel – wenn ich mich trotzdem zu dir hingezogen fühle, so mag das immerhin so etwas wie Liebe sein. Wie gesagt: ich ringe selbst noch um Erkenntnis."

"Das sollst du länger nicht mehr nötig haben!" zischte Emma und warf mir den Verlobungsring vor die Füße.

In den reinen Höhen der Wahrhaftigkeit muss man auch solche Opfer in Kauf nehmen. Ich werde immer mehr zur Persönlichkeit.

Mein Hauswirt kam und sprach: "Unser Onkel Konstantin ist gestorben, Sie kannten ihn ja. Er saß uns ja immer auf dem Hals. Ich bin im Schriftlichen so unbeholfen – bitte, setzen Sie mir doch einen Nachruf namens der Familie auf, ja?"

Freilich hatte ich Onkel Konstantin gekannt. Er war der unsympathischste Bursche in hundert Quadratmeilen Umkreis. Ein unausstehlicher Kerl, der Schrecken der ganzen Familie.

Ich schrieb den Nachruf nach bestem Wissen und Gewissen. Er fiel danach aus. Ich nannte ihn "widerlich", "nicht wohlachtbar" und die erlöste Familie "nicht tief trauernde Hinterbliebene". Mein Hauswirt wollte es gar nicht erst lesen, da gab ich's gleich in der Zeitung auf.

Daraufhin verklagte mich die Gesamtsippe des Wirts. Einer der Verwandten stellte namens der Familie Strafantrag gegen mich und vertrat sie vor Gericht.

Ich bekam ihn erst im Sitzungssaal zu Gesicht. Es war – der Persönlichkeitsmann, der Wanderapostel, der Triumphator der Wahrhaftigkeit, der mich einst bekehrt hatte.

Ich wies nach, dass mein Nachruf Wort für Wort die reine Wahrheit enthielt. Aber das Gericht ließ sich nicht überzeugen, dass ich nicht anders handeln konnte, als ich getan.

Mein Verteidiger forderte den Paragraphen 51 für mich, was ich ihm sehr übel nahm. Ich hielt eine fulminante Rede über den Triumph der Wahrhaftigkeit, und dass höchstes Glück der Erdenkinder…

Das Gericht beschloß daraufhin, mich zur Beobachtung meines Geisteszustandes in eine Anstalt zu schicken. Hier saß ich einige Wochen und grübelte nach. Und fand, dass es einem doch recht schwer gemacht wird, sich zur Persönlichkeit zu entwickeln.

Es gefiel mir in der Anstalt nicht, und so beschloss ich, rasch wieder loszukommen. Das war ganz einfach.

"Na, Freundchen, wie gefällt's Ihnen denn hier?" fragte mich heute der Arzt und grinste mich an.

"Ausgezeichnet", log ich, "unter der Obhut so hervorragender Ärzte…"

Der Doktor sah mich überrascht an und sagte: "Na, sehen Sie: jetzt werden Sie so langsam wieder normal."

Und unterschrieb meinen Entlassungsschein.