Mißverständnisse zwischen Menschen verschiedener Herkunft am Beispiel Paarungsverhalten

Quelle: Paul Watzlawick, "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?"

Während der letzten Phasen des Zweiten Weltkriegs und in den unmit­tel­baren Nachkriegsjahren hielten sich Millionen amerika­ni­scher Soldaten auf ihrem Weg zum europäischen Festland vorübergehend in Großbritannien auf. Dies bot die einmalige Gelegenheit, die Wirkungen einer solchen, für moderne Zeiten ungewöhnlichen Massen­durch­dringung zweier Kulturformen unmit­tel­bar zu studieren.

Einer der Aspekte dieser Studie war ein Vergleich des Paarungs­verhal­tens in den beiden Kulturen. Dabei ergab es sich, daß sowohl die amerikanischen Soldaten als auch die englischen Mäd­chen sich gegenseitig des Mangels an sexuellem Taktgefühl und Zurückhaltung bezichtigten. Dies schien zunächst sehr merk­würdig, denn wie konnten beide Seiten dasselbe von der anderen behaupten?
Nähere Untersuchungen brachten ein typisches Inter­punk­tions­problem ans Licht: Das kulturspezifische Paarungsverhalten, vom ursprünglichen Kennenlernen bis zum Geschlechtsverkehr, durchläuft sowohl in England als auch in den USA ungefähr die­selben 30 Verhaltensstufen; die Reihenfolge(!) dieser Verhaltens­weisen ist aber in den beiden Kulturen verschieden. Während in den USA zum Beispiel Küssen relativ früh (etwa auf Stufe 5) kommt und recht harmlos ist, gilt es in England für sehr erotisch und nimmt daher einen viel späteren Platz im Verhaltensablauf (etwa Stufe 25) ein. Wenn also der Amerikaner annahm, es sei Zeit für einen unschuldigen Kuß, war dieser Kuß für die Eng­län­de­rin durchaus kein unschuldiges, sondern ein sehr unverschämtes Benehmen, das für sie keineswegs in dieses Frühstadium der Beziehung paßte. Sie fühlte sich daher nicht nur in undeutlicher Weise (diese kulturell bedingten Verhaltensregeln sind na­tür­lich fast völlig außerbewußt) um einen großen Teil des »richtigen« Paarungsverhaltens betrogen, sondern hatte sich zu entscheiden, ob sie die Beziehung an diesem Punkte abbrechen oder sich ihrem Freunde sexuell hingeben sollte. In diesem letzteren Falle war die Reihe nun am amerikanischen Soldaten, das Verhalten seiner Freundin auf Grund seiner außerbewußten Verhaltensregeln als nicht in das Frühstadium der Beziehung passend und daher schamlos zu finden.

Wenn wir nun den typischen Fehler begehen, das Verhalten des Mädchens in künstlicher Isolierung zu beurteilen, so wird es uns nicht schwerfallen, eine Art psychiatrischer Diagnose zu stellen: Bricht sie die Beziehung nach dem ersten Kuß überstürzt ab und ergreift die Flucht, so könnte dies hysterisch genannt werden; beginnt sie dagegen, sich auszuziehen, so scheint dies nymphomanisch. Es kann kaum ausdrücklich genug betont werden, daß es sich hier und in allen ähnlichen Fällen um Konflikte handelt, die nicht auf einen der beiden Part­ner reduziert werden können und dürfen, sondern die ausschließ­lich im Wesen der Beziehung liegen. Es ist typisch für solche Probleme, daß die Partner sie meist nicht von sich aus lösen können, da ihnen die zwischenpersönliche Natur des Konflikts verborgen bleibt und sie daher in einem Zustand der Desinformation leben. Bereits Wittgenstein bemerkte: »Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also nicht sagen, was wir nicht denken können«. Und Laing definiert diese Form der Desinformation wie folgt : »Wenn ich nicht weiß, daß ich nicht weiß, glaube ich zu wissen. Wenn ich nicht weiß, daß ich weiß, glaube ich nicht zu wissen«.