Märchen werden/wurden von Generation zu Generation weiter gegeben, aber auch an benachbarte Stämme und Völker.
Beim Wechsel über eine Kulturgrenze werden sie dann auch an die Mentalität der neuen Umgebung angepasst.
Hier ein besonders deutliches Beispiel. Links aus dem nordischen Finnland, rechts aus dem christlichen Deutschland.
Ich habe die beiden Texte nebeneinander angeordnet und gegliedert, so dass die Passagen gut verglichen werden können.
Bekennst du? | Marienkind | |
Es war einmal ein Schmied, der war ein so großer Trinker, dass er das Saufen nicht mehr lassen konnte. Schließlich vertrank er sein ganzes Gehöft, seine Schmiede und sein Handwerkszeug. Er hatte auch eine Frau gehabt, aber als diese bemerkte, dass alles dahinging, hatte sie einen Teil ihrer Habe an sich genommen und sich ein kleines Häuschen in der Nähe der Stadt gekauft. Als nun der Schmied bis auf sechs Kupferstücke alles vertrunken hatte, ging er zum Seiler und kaufte sich einen Strick, um sich daran aufzuhängen. Der Seiler gab ihm ein gutes Stück und sagte: »Hier hast du einen, der hält!« Der Schmied ging in den Wald und sah sich nach einem passenden Baum um. Da fuhr ein altes Weib mit einem schwarzen Pferd an ihm vorbei und rief: »Mann, Mann, was hast du vor?« - »Ich will mich aufhängen«, antwortete der Schmied. »Warum denn?« - »Das Geld ist alle. Das alte ist vertrunken, und neues ist nicht zu erwarten.« Da sagte die Hexe: »Aber deswegen häng dich doch nicht auf, versprich mir das, was deine Frau jetzt zur Welt bringt, so kann ich dir helfen.« Der Schmied überlegte erst, aber dann versprach er es unter der Bedingung, dass er es fünfzehn Jahre behalten dürfe. »So lange magst du es behalten«, sagte die Hexe. Darauf gab sie ihm einen Beutel und sprach: »Hier hast du Geld, damit du dir helfen kannst.« Der Schmied ging zu seiner Frau, bat um Teller und schüttete mehrere voll Geld. Dann kaufte er seine Schmiede und sein Handwerkszeug zurück, fing von neuem an zu arbeiten und lebte von da ab wie andere Menschen auch. Die Frau hätte gern gewusst, woher ihr Mann das Geld hatte, aber er wollte es nicht sagen. Mit der Zeit musste er es aber doch sagen, dass er das Kind versprochen hatte. Die Frau bekam ein Kind, und es war ein Mädchen. Als es vier Wochen alt war, fing es in der Wiege an zu sprechen: »Ich muss aufstehen und arbeiten, denn ich habe Eile.« Es stand auf und machte Spitzen und andere Arbeiten, wie sie nie zuvor in der Welt gemacht worden waren. Daher wurde das Mädchen von mancher Herrschaft zum Nähen genommen. Eines Tages, als es bei einer Gräfin nähte, sagte es plötzlich: »Jetzt muss ich nach Hause gehen.« Daheim aber sagte es zu seiner Mutter: »Bringt alles in Ordnung, jetzt werde ich geholt.« Die Mutter erschrak und erzählte dem Vater, was ihre Tochter gesagt hatte. Der Vater rechnete nach, und es waren gerade die fünfzehn Jahre um. Da brachten sie die Kleider ihrer Tochter in Ordnung. | Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau; der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren aber so arm, dass sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und. nicht wussten, was sie ihm sollten zu essen geben. Eines Morgens ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: »Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins: du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind; ich will es mit mir nehmen, seine Mutter sein und für es sorgen.« | |
Die Hexe kam und sprach: »War es nicht so verabredet?« - »Das war es«, antwortete der Schmied. Das Mädchen wurde fertig gemacht, um mit der Alten zu gehen. Die Hexe hatte wieder schwarze Pferde vor dem Wagen wie damals, und das Mädchen setzte sich neben sie. Da nahm sie das Mädchen auf ihren Schoß und fragte: »Hast du jemals weicher gesessen?« - »Was ist weicher als der Schoß der eigenen Mutter?« antwortete das Mädchen. Da gab die Hexe dem Mädchen aus einer Flasche zu kosten und fragte: »Hast du je etwas Süßeres gekostet?« - »Was ist süßer als die Milch der eigenen Mutter?« antwortete das Mädchen. Neben dem Weg aber stand eine Ahlkirsche, und die Hexe fragte: "Weißt du, warum sie vertrocknet ist?« - »Ich weiß es«, antwortete das Mädchen, »in dieser Truhe ist ein Rock, den ich aus ihren Blättern genäht habe.« Dann fuhren sie in einen tiefen Wald, und dort stand ein großes Haus. Dahinein brachte die Hexe das Mädchen und befahl ihm, dort zu bleiben. | Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold, und die Englein spielten mit ihm. | |
Sie gab ihm viele Schlüssel, von denen jeder zu einem besonderen Zimmer gehörte, und sie durfte in alle Zimmer gehen, nur im Flur war ein Zimmer, das sie nicht betreten durfte. Sie fand ein Zimmer mit allerlei Speisen und ein anderes, wo sie schlafen konnte. Als sie eine Zeitlang dort war, kam die Hexe, um nach ihr zu sehen. Da war noch nichts vorgefallen. Sie ging wieder fort und ließ das Mädchen zurück. Als nun die Schmiedstochter einmal in den Flur kam, dachte sie: »Was mag wohl in der Kammer sein?« - und sie öffnete die Tür. Da hob von der Rückwand ein Toter den Kopf nach ihr, als sie die Tür öffnete, denn von der Tür bis zu dem Toten ging ein Kupferdraht. Sie schlug die Tür zu, und der Tote rief ihr nach: »Bekenne es nur nicht!« | Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief die Jungfrau Maria es einmal zu sich und sprach: »Liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmelreichs in Verwahrung: zwölf davon darfst du aufschließen und die Herrlichkeiten darin betrachten, aber die dreizehnte, wozu dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten: hüte dich, dass du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich.« Das Mädchen versprach gehorsam zu sein, und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing sie an und besah die Wohnungen des Himmelreichs. Jeden Tag schloß es eine auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber saß ein Apostel und war von großem Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit, und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm. Nun war die verbotene Tür allein noch übrig; da empfand es eine große Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und sprach zu den Englein: »Ganz aufmachen will ich sie nicht und will auch nicht hineingehen, aber ich will sie aufschließen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen.« - »Ach nein«, sagten die Englein, »das wäre Sünde: die Jungfrau Maria hat's verboten, und es könnte leicht dein Unglück werden.« Da schwieg es still, aber die Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte und pickte ordentlich daran und ließ ihm keine Ruhe. Und als die Englein einmal alle hinausgegangen waren, dachte es: »Nun bin ich ganz allein und könnte hineingucken, es weiß es ja niemand, wenn ich's tue.« Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn auch in das Schloss, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da sprang die Türe auf, und es sah die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen. Es blieb ein Weilchen stehen und betrachtete alles mit Erstaunen; dann rührte es ein wenig mit dem Finger an den Glanz, da ward der Finger ganz golden. Alsbald empfand es eine gewaltige Angst, schlug die Türe heftig zu und lief fort. Die Angst wollte auch nicht wieder weichen, und das Herz klopfte in einem fort und wollte nicht ruhig werden: auch das Gold blieb an dem Finger und ging nicht ab. | |
Die Hexe kam nach Hause und sagte: »Du hast die Tür zur Flurkammer geöffnet.« - »Nein, das habe ich nicht getan«, antwortete das Mädchen. Die Hexe sagte: »Da hilft nichts, du musst deine Strafe haben. Willst du taub, stumm oder blind sein?« Das Mädchen dachte: »Wenn ich taub bin, so hör ich nicht, was die Menschen sagen, und höre die Vögel nicht singen, und wenn ich blind bin, sehe ich Gottes schöne Welt nicht.« Sie antwortete, dass sie am liebsten stumm sein wollte. Es verstrich einige Zeit, da wurde die Hexe böse und sprach: »Das ist noch nicht genug!« und sie führte sie auf einen hohen Berg, und unter dem Berg war das Meer. Da zog ihr die Hexe alle Kleider aus und stieß sie von dem Felsen herab ins Meer. | Gar nicht lange, so kam die Jungfrau Maria von ihrer Reise zurück. Sie rief das Mädchen zu sich und forderte ihm die Himmelsschlüssel wieder ab. Als es den Bund hinreichte, blickte ihm die Jungfrau in die Augen und sprach: »Hast du auch nicht die dreizehnte Türe geöffnet?« - »Nein«, antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fühlte, wie es klopfte und klopfte, und merkte wohl, dass es ihr Gebot übertreten und die Türe aufgeschlossen hatte. Da sprach sie noch einmal: »Hast du es gewiss nicht getan?« - »Nein«, sagte das Mädchen zum zweiten Mal. Da erblickte sie den Finger, der von der Berührung des himmlischen Feuers golden geworden war, sah wohl, dass es gesündigt hatte, und sprach zum dritten Mal: »Hast du es nicht getan?« - »Nein«, sagte das Mädchen zum dritten Mal. Da sprach die Jungfrau Maria: »Du hast mir nicht gehorcht und hast noch dazu gelogen, du bist nicht mehr würdig, im Himmel zu sein.« | |
Aber da war sandiger Grund, und sie ging zu Fuß an das andere Ufer. Weil sie aber nackt war, wagte sie sich nicht in die Nähe der Menschen, sondern versteckte sich in einer großen hohlen Eiche. | Da versank das Mädchen in einen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde, mitten in einer Wildnis. Es wollte rufen, aber es konnte keinen Laut hervorbringen. Es sprang auf und wollte fortlaufen, aber wo es sich hinwendete, immer ward es von dichten Dornhecken zurückgehalten, die es nicht durchbrechen konnte. In der Einöde, in welche es eingeschlossen war, stand ein alter hohler Baum, das musste seine Wohnung sein. Da kroch es hinein, wenn die Nacht kam, und schlief darin, und wenn es stürmte und regnete, fand es darin Schutz: aber es war ein jämmerliches Leben, und wenn es daran dachte, wie es im Himmel so schön gewesen war und die Engel mit ihm gespielt hatten, so weinte es bitterlich. Wurzeln und Waldbeeren waren seine einzige Nahrung, die suchte es sich, soweit es kommen konnte. Im Herbst sammelte es die herabgefallenen Nüsse und Blätter und trug sie in die Höhle; die Nüsse waren im Winter seine Speise, und wenn Schnee und Eis kamen, so kroch es wie ein armes Tierchen in die Blätter, dass. es nicht fror. Nicht lange, so zerrissen seine Kleider, und fiel ein Stück nach dem andern vom Leib herab. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es ein Jahr nach dem andern und fühlte den Jammer und das Elend der Welt. | |
Dort im Walde waren die Söhne des Königs auf der Vogeljagd. Und die Hunde, welche überall herumschnüffelten, fanden sie in dem Baum. Da ging der junge König hin und fragte: »Ist dort ein Mensch oder ein Spuk?«, und er befahl ihr herauszukommen. Das wollte sie nicht, weil sie nackend war. Aber der König drohte, sie zu erschießen, und da musste sie kommen. Sie war ein unsagbar schönes Menschenkind, und der junge König nahm sie zur Frau, obgleich sie nicht sprechen konnte. | Einmal, als die Bäume wieder in frischem Grün standen, jagte der König des Landes in den Wald und verfolgte ein Reh, und weil es in das Gebüsch geflohen war, das den Waldplatz einschloss, stieg er vom Pferd, riß das Gestrüppe auseinander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er endlich hindurch gedrungen war, sah er unter dem Baum ein wunderschönes Mädchen sitzen, das saß da und war von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt. Er stand still und betrachtete es voll Erstaunen; dann redete er es an und sprach: »Wer bist du? Warum sitzest du hier in der Einöde?« Es gab aber keine Antwort, denn es konnte seinen Mund nicht auftun. Der König sprach weiter: »Willst du mit mir auf mein Schloss gehen?« Da nickte es nur ein wenig mit dem Kopf. Der König nahm es auf seinen Arm, trug es auf sein Pferd und ritt mit ihm heim, und als er auf das königliche Schloss kam, ließ er ihm schöne Kleider anziehen und gab ihm alles in Überfluss. Und ob es gleich nicht sprechen konnte, so war es doch schön und holdselig, dass er es von Herzen lieb gewann, und es dauerte nicht lange, da vermählte er sich mit ihm. | |
Nun, und dann bekam sie ein Kind. Die Hexe erschien und fragte sie: »Bekennst du?« Da antwortete sie: »Nein!« Der Hexe konnte sie antworten, und wenn sie sonst wer gefragt hätte: »Bekennst du?«, darauf hätte er Antwort bekommen. Die Hexe nahm ihr das Kind weg und legte einige Knochen neben sie, damit sie glaubten, sie habe ihr Kind aufgegessen. »Aus dem Wald ist sie gekommen«, sagten sie, »und sie wird wohl auch ein wildes Tier sein.« Aber der junge König verteidigte sie, obgleich es ihn sehr betrübte, dass auf diese Weise sein Kind verloren war, denn seine Gattin war ungewöhnlich schön und ganz unvergleichlich in allem. Nun bekam die Königin zum zweiten Mal ein Kind. Die Hexe erschien wieder und fragte: »Bekennst du, dass du damals die Kammertür geöffnet hast?« Da antwortete sie bloß: »Nein!« Da nahm ihr die Hexe wieder das Kind weg und legte Knochen neben sie. Die Königin sollte zum Scheiterhaufen verurteilt werden, aber nicht einmal jetzt wollte es der junge König zulassen. Er hatte die Hexe gesehen und sagte: »Wie kannst du nur so einer Hexe antworten, und auf meine Fragen antwortest du nicht?« Das dritte Mal ging es ebenso. | Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: »Willst du die Wahrheit sagen und gestehen, dass du die verbotene Tür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen und dir die Sprache wiedergeben: verharrst du aber in der Sünde und leugnest hartnäckig, so nehme ich dein neugeborenes Kind mit mir.« Da ward der Königin verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt und sprach: »Nein, ich habe die verbotene Tür nicht aufgemacht«, und die Jungfrau Maria nahm das neugeborene Kind ihr aus den Armen und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es nicht glauben, weil er sie so lieb hatte. Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach: »Willst du gestehen, dass du die verbotene Türe geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses Neugeborene mit mir. « Da sprach die Königin wiederum: »Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet«, und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut, die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räte verlangten, dass sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, dass er es nicht glauben wollte, und befahl den Räten, bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr darüber zu sprechen. Im nächsten Jahre gebar die Königin eines schönes Töchterlein; da erschien ihr zum dritten Mal nachts die Jungfrau Maria und sprach: »Folge mir.« Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freute, sprach die Jungfrau Maria: »Ist dein Herz noch nicht erweicht? Wenn du eingestehst, dass du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurückgeben.« Aber die Königin antwortete zum dritten Mal: »Nein, ch habe die verbotene Tür nicht geöffnet.« Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde herabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind. | |
Beim dritten Mal verurteilten sie die Königin zum Scheiterhaufen. Der Holzstoss war geschichtet, und viel Volks hatte sich versammelt. Der König führte sie selbst dorthin, denn er liebte sie sehr und hätte sie noch nicht hergegeben, aber das Gesetz verlangte es. Es waren aber dort drei Zauntüren, und jede Zauntür begann zu fragen: »Bekennst du?« Die Königin antwortete: »Nein!« Der König verwunderte sich: »Warum antwortest du den Zauntüren und mir nicht?« Dann führten sie die Königin auf den Scheiterhaufen. | Am anderen Morgen, als es ruchbar ward, riefen alle Leute laut: »Die Königin ist eine Menschenfresserin, sie muss verurteilt werden«, und der König konnte seine Räte nicht mehr zurückweisen. Es ward ein Gericht über sie gehalten, und weil sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie verurteilt, auf dem Scheiterhaufen zu sterben. | |
Das Feuer war angezündet und die Flammen züngelten schon nach ihren Kleidern, als die Hexe erschien und rief: »Bekennst du?« - »Nein!« - | Das Holz wurde zusammengetragen, und als sie an einen Pfahl festgebunden war, und das Feuer rings umher zu brennen anfing, da schmolz das harte Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt, und sie dachte: »Könnt ich nur noch vor meinem Tode gestehen, dass ich die Tür geöffnet habe«, da kam ihr die Stimme, dass sie laut ausrief: »Ja; Maria, ich habe es getan!« | |
Da blies die Hexe das Feuer aus und sprach: »Du bist stark geblieben, hier sind deine Kinder.« Es waren zwei sehr schöne Knaben und ein Mädchen. Nun konnte sie wieder sprechen. Freudig brachte jetzt der König seine Gemahlin nach Hause, und einige Zeit darauf bat sie ihn um die Erlaubnis, ihre Eltern besuchen zu dürfen. Die Hexe aber ließ sie von nun an in Frieden, weil sie ihre Probe bestanden und nicht bekannt hatte. | Und alsbald fing der Himmel an zu regnen und löschte die Feuerflammen, und über ihr brach ein Licht hervor, und die Jungfrau Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das neugeborne Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich zu ihr: »Wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben«, und reichte ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze Leben. |
Fällt Euch der Unterschied auf?
Die nordische Ethik belohnt Standhaftigkeit und Willensstärke,
die christliche Ethik belohnt Unterwerfung und Schwäche.