Ich war mal Sektenmitglied

Ich wurde bereits als kleines Kind von meinen Eltern in eine Sekte eingebracht, noch bevor ich laufen und sprechen, geschweige denn selbst­ständig denken konnte. Meine Mutter war ein überzeugtes Mit­glied, ging regelmäßig in die öffentlichen Versammlungen und nahm mich immer mit. Atmosphäre und Rituale dieser Versamm­lun­gen und eine im Alter von sechs Jahren begonnene planmäßige Indoktrination haben mich sehr beeindruckt und geprägt.
Ich fand in dieser Sekte Sicherheit und Geborgenheit, bis im Alter von ca. 20 Jahren der Verstand einsetzte. Da bemerkte ich, dass das von dieser Sekte verbreitete Gottesbild nicht mit meinem Wissen und meiner Erfahrung übereinstimmt. Da ich noch kein anderes Gottesbild kannte, glaubte ich nun, dass es überhaupt keinen Gott gäbe. Es folgte eine Zeit der Hoffnungslosigkeit, die mich fast in den Suizid trieb, bis sich aus dem, was ich so zusammenlas, ein neuer Glaube formte, der zu meinem Wissen und Wesen paßt.
Trotzdem unterstützte ich die Sekte noch eine Weile durch meine Mitgliedsbeiträge, da ich den gemeinnützigen Anteil ihrer Tätigkeit anerkennenswert fand. Erst ein paar Jahre nach meiner geistigen Befreiung vollzog ich den endgültigen Bruch und trat aus.

Die Sekte, deren Mitglied ich war, unterhält Erziehungs­ein­rich­tun­gen, ist im Besitz von Firmen und hat großen Einfluss im deutschen Staat und in den Medien. Es ist aber nicht die viel kritisierte Scientology, sondern

eine Abspaltung des Judentums, nämlich – die katholische Kirche. (Man ersetze "Mitgliedsbeitrag" durch "Kirchensteuer", "Versamm­lung" durch "Messe" usw.)

Die Behauptung, dass nur die Sekten totalitär seien, ist ja wohl ein missglückter Witz: Was geschah denn mit Drewermann? Wie steht die Kirche zu Geschiedenen, die wieder heiraten? Ein öster­reichischer Fernsehpfarrer formulierte: "Die katholische Kirche ist eine absolu­ti­sti­sche Monarchie, gemildert durch den Ungehorsam der Priester."

Erstfassung vom 7.12.1992