In dem Buch Die Vermessung des Glaubens, Kapitel 3 "Hirnforschung und Transzendenz", Kapitel "Die Stimmen der Götter", beschreibt der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel u.a., wie durch künstliche oder krankheitsbedingte Stimulierung bestimmter Hirnteile Halluzinationen hervorgerufen werden, die von manchen Menschen spirituell interpretiert werden.
Die Entscheidung, ob die erzeugten Halluzinationen allerdings sachlich oder spirituell interpretiert werden, hängt dann von der Situation und der Persönlichkeit der Betroffenen ab.
Ich beschränke mich wegen des Urheberrechts auf zwei Auszüge und empfehle, bei weiterem Interesse das Buch zu kaufen.
Seite 204ff
Seit alters her gilt die Epilepsie als »heilige Krankheit«. Für Mediziner steckt dahinter allerdings kein göttliches Wunder, sondern eher ein nüchterner neurologischer Mechanismus: Bei einem epileptischen Anfall gerät die elektrische Aktivität der Nervenzellen in bestimmten Hirnpartien (häufig den Schläfenlappen) außer Kontrolle; die Neuronen beginnen plötzlich unkontrolliert zu »feuern« und setzen nach und nach immer größere Bereiche »in Brand«.
Der vielleicht früheste Bericht von einem solchen Anfall findet sich in der Bibel, in der Beschreibung der Bekehrung des Saulus zum Paulus auf der Straße nach Damaskus (Apostelgeschichte 9,3). Da umleuchtete den Reisenden plötzlich »ein Licht vom Himmel«, er fiel auf die Erde, hörte »eine Stimme, die sprach zu ihm« und ward »drei Tage nicht sehend und aß und trank nicht«. Für einen Arzt ist die Diagnose klar: Saulus erlitt einen heftigen epileptischen Anfall, der mit psychogener Blindheit, halluzinierten Stimmen, Leuchtphänomenen sowie einer starken Migräne einherging. Auf ähnliche Weise haben Mediziner inzwischen viele Heilige posthum als Epileptiker eingestuft: …
Warum änderte ausgerechnet Paulus nach einem epileptischen Anfall sein Leben – und andere Epileptiker nicht?
Studien zeigen, dass offenbar nur eine bestimmte Form von Epilepsie mit Religiosität in Verbindung gebracht werden kann. Dazu neigen hauptsächlich Patienten, deren Anfallzentrum im Schläfenlappen liegt. Der 1984 verstorbene Harvard-Neurologe Norman Geschwind, der als Klinikdirektor jahrelang solche Patienten behandelt hatte, sprach gar von einem spezifischen, einheitlichen Charakterbild der Schläfenlappen-Epileptiker. Neben intensivem philosophischem Interesse könne man bei ihnen oft auch einen ausgeprägten Schreibdrang (Hypergraphia), verminderte sexuelle Aktivität, aggressive Irritierbarkeit und eine Tendenz zur »Hyperreligiosität« beobachten. Andere Forscher haben diesen Charakterzügen noch einen Hang zu Hypermoralität, Detailbesessenheit und Humorlosigkeit hinzugefügt – das klingt wie das Zerrbild eines missionarischen, verbissen-verklemmten Erweckungspredigers.
… In der Tat zeigen solche Forschungen zwar, dass religiöse Stimmungen mit epileptischen Anfällen im Schläfenlappen zusammenhängen können. Daraus folgt aber noch kein zwingender Zusammenhang. Nicht jeder religiöse Mensch ist Epileptiker, und nicht alle Epileptiker machen Erfahrungen überirdischer Seligkeit …
… dass die Aktivität in den Schläfenlappen alleine die religiösen Erlebnisse nicht erklären könne, von denen manche Patienten berichten; es müssten noch weitere Faktoren hinzukommen, wie zum Beispiel ein bereits vorhandenes, übergroßes religiöses Interesse, vielleicht auch ein Wunsch nach spirituellem Trost und das Bedürfnis, die oft abrupten, mitunter bizarren Erfahrungen einordnen und erklären zu wollen.
… Wer ein religiöses Erleben umfassend deuten will, sollte auch die Persönlichkeit des Betroffenen, sein Umfeld und die jeweilige Situation betrachten.
Ähnlich verhält es sich auch mit einer Kategorie von Erlebnissen, die zwar nicht religiös im engeren Sinne genannt werden können, die aber von manchen als unumstößliche Evidenz für das Vorhandensein einer Seele gewertet werden. Die Rede ist von den so genannten Außerkörperlichen Erfahrungen, im Wissenschaftsjargon Out-of-body-Erfahrungen genannt. In diesem merkwürdigen Zustand scheint sich das Bewusstsein gleichsam vom Körper zu lösen, emporzuschweben und von oben die Welt (und das, was von der eigenen Person zurückgeblieben ist) zu betrachten. Für jene, die ein solches »Loslösen« vom Körper erleben, eine zutiefst verstörende Erfahrung. Denn häufig ereignet es sich in emotionalen Stresssituationen – bei Unfällen, Operationen oder Entbindungen, manchmal auch an der Schwelle des Todes – und die Eindrücke dabei sind so intensiv und real, dass sie nicht als Traum, sondern als Wirklichkeit erscheinen.
Typische Berichte sprechen davon, dass man den eigenen Körper im Bett liegen sehe und dass sich dann das »Ich« (oder die Seele oder was auch immer) vom Körper trenne und sich mühelos durch die Luft bewege, ätherische Welten oder bekannte Landschaften aus einer veränderten Perspektive wahrnehme.
Neurologe am Universitätsklinikum in Genf |
Für Olaf Blanke spielt daher die Schnittstelle von Scheitel- und Schläfenlappen eine »Schlüsselrolle für das Ich-Empfinden«. An dieser »tempora-parietalen Junktion« (TPJ) werden Informationen aus den verschiedensten Sinnessystemen koordiniert und zu einem gemeinsamen Bild des eigenen Körpers und dessen Umgebung verschmolzen. Wird diese integrative Funktion des TPJ gestört, so Blanke, kann sich das Selbst- und Weltbild drastisch verändern.
Den besten Beweis für seine These liefert der Forscher gleich selbst: Im Jahre 2002 hat er nämlich zum ersten Mal künstlich eine außerkörperliche Erfahrung bei einer Patientin ausgelöst. Er hatte einer dreiundvierzigjährigen Frau zur Vorbereitung auf eine Epilepsie-Operation winzige Elektroden ins Gehirn gepflanzt. Nacheinander aktivierte er diese, um das Anfallszentrum genau zu bestimmen. Und gerade als er den so genannten Angular Gyrus stimulierte, der Teil der tempora-parietalen Junktion ist, geschah es: Plötzlich, so berichtete die Patientin, habe sie das Gefühl, ihren Körper verlassen zu haben. »Ich fühle mich leicht und schwebe in etwa zwei Metern Höhe. Unten sehe ich meinen Körper auf dem Bett liegen«, sagte die Frau. Natürlich war der Mediziner Blanke von diesem Bericht wie elektrisiert. Er reizte den Angular Gyrus erneut – und löste prompt bei seiner Patientin wieder eine außerkörperliche Erfahrung aus.
Was dabei neurologisch genau passiere, verstehe man zwar noch nicht ganz, meint Blanke. Aber eine grobe Idee habe er schon. Der Angular Gyrus ist eines jener Zentren im Gehirn, in dem Sinneseindrücke aus den verschiedensten Regionen zusammenlaufen. Da wären zum einen jene Informationen über den Zustand des eigenen Körpers, die von den inneren Organen, von Knochen, Gelenken oder den Gleichgewichtsorganen stammen; und zum anderen jene über die äußere Welt, die von der Haut, den Augen, Ohren und der Nase geliefert werden. Im Idealfall werden all diese Signale im Angular Gyrus so zusammengefügt, dass das innere Bild des Körpers mit seiner Position in der äußeren Welt übereinstimmt. Doch diese Leistung des Gehirns, die uns so selbstverständlich erscheint, ist keinesfalls trivial. Kommt es zu einer Art »Kurzschluss« in diesem Integrationszentrum, kann es durchaus passieren, dass Modell und Realität nicht mehr als passgenau wahrgenommen werden, sondern auseinanderklaffen. Das Gehirn produziert ein Zerrbild – ähnlich einer Bildstörung im Fernsehapparat –, das den Körper möglicherweise an anderer Stelle erscheinen lässt, als er sich tatsächlich befindet.